© Georg Heimberger

Zuhause auf Sylt

Wenn die Insel mehr ist als ein Flirt

Vor 20 Jahren begeisterten Judith Holofernes und die Jungs der Deutsch-Pop-Rockband „Wir sind Helden“ mit dem Song „Gekommen, um zu bleiben“. Besonders schön: die Version mit Max Raabe und dem „Palastorchester“. Der Titel passt wunderbar zum Thema der zweiten Ausgabe der digitalen „Natürlich Sylt“. Denn hier geht es um Menschen, für die Sylt mehr ist als ein Sehnsuchtsort. Aus den unterschiedlichsten Gründen haben die Hauptdarsteller*innen dieser Story sich für Sylt als Lebensmittelpunkt entschieden. Manchmal war die Insel auch Schicksal…

19.969

Einwohner*innen haben ihren Hauptwohnsitz auf der Insel

6.962

Sylter Zweitwohnsitze sind offiziell bei der Inselverwaltung gemeldet

20,3

Prozent der Inselbevölkerung hat eine andere erste Staatsbürgerschaft

115

verschiedene Nationalitäten leben und arbeiten auf der Insel

Gisela Erdmann

Schuld allein trug die Liebe

Gisela Erdmann verliebte sich zunächst auf Sylt, später dann auch in Sylt.
© Nicole Mai für „Mensch, Kampen!“

Durch den „Fremdenverkehr“ kam vor 150 Jahren zu den überschaubaren Gründen, auf die karge Insel zu ziehen, etwa zwei Dutzend neue Motive dazu. Arbeit, gute Geschäfte, Inspiration, Gesundheit und natürlich die Liebe - unter den Argumenten für Sylt ganz weit vorne. Als eine Kraft, die offenbar Berge und Dünen verschieben kann. 

Bei der Seniorchefin des „Hotel Rungholt“ muss diese Kraft ziemlich groß gewesen sein. Denn so richtig toll fand die Hamburgerin den Sandknust zunächst nicht. „Es war ein verregneter Sommertag 1955, als ich die Insel kennenlernte. Ich logierte mit einer Freundin im ehemaligen Reitstall an der Wenningstedter Hauptstraße. Meine ersten Ferien überhaupt. Bei unserem Orientierungsspaziergang Richtung Braderup war ich durchaus nicht überwältigt von dem, was ich so sah. Ich fand die Landschaft eher trostlos. Wir trafen auf diesem Spaziergang zwei Reiter und kamen mit ihnen ins Gespräch“, erinnert Gisela Erdmann den Moment, dem sie zunächst keine größere Bedeutung beimaß. Dabei veränderte er ihr gesamtes Leben.

Dietrich Erdmann, Sproß einer weit verzweigten Sylter Hotelier-Familie und einer der beiden Reitersleute, war sofort entflammt für die junge Frau aus Hamburg. Er setzte alle Hebel und Kontakte in Bewegung und fand heraus, wo genau die beiden Spaziergängerinnen in Wenningstedt ihre Sommerfrische verbrachten. Da Datenschutz damals noch nicht so groß geschrieben wurde, trug sein Bemühen Früchte. Die beiden sahen sich wieder und Dietrich Erdmann warb nach allen Regeln der Kunst um Gisela. Irgendwann, viel später und nachdem er auch bei seinen  Schwiegereltern in Hamburg seine Aufwartung gemacht hatte, hielt er bei einem romantischen Treffen in der „Kupferkanne“ um ihre Hand an. 

Dietrich Erdmann hatte wie viele andere Sylter in der Nachkriegszeit in produktiveren Regionen Deutschlands Arbeit gefunden. Der „Fremdenverkehr“ an der Nordsee lief erst langsam wieder an. Dietrich Erdmann arbeitete darum in einem kleinindustriellen Betrieb im Sauerland und hatte dort eine vielversprechende Stellung. Nicht zuletzt, weil Gisela sich nicht so recht mit Sylt anfreunden konnte, zog das frische Glück ins Sauerland, bekamen dort 1960 und 1963 zwei Kinder und führte ein wunderbares Leben. Wieso die Familie dann 1971 nach Kampen umsiedelte und aus einem maroden Hotelbetriebe die erste Adresse Kampens machte? Und warum Gisela Erdmann schließlich doch mit Sylt ihren Frieden schloss und sich heute freuen kann, dass das „Rungholt“ auch in Zukunft ein Familienbetrieb bleibt - all das lässt sich im Buch „Menschen, Kampen“ mit 22 Lebensgeschichten aus dem Dorf zwischen den Meeren nachlesen.

  • Wenig mondän und sehr ländlich war Kampen bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein. Und auch dann war der Glamour nicht flächendeckend. Der große Hype kam in den Wirtschaftswunderjahren.

Vor der Ära der Sommergäste lebten in den Insel-Dörfern nur wenige Menschen. Kampen zählte zum Beispiel im 18. Jahrhundert 102 Menschen in zwei Dutzend Häusern. Neu-Bürger*innen kamen von den anderen Insel durch Heirat dazu. Signifikant größer wurde die Sylter Bevölkerung erst mit dem Tourismus und in Folge der militärischen Aufrüstung vor dem Ersten, vor allem aber vor dem Zweiten Weltkrieg. Vor Ausbruch des Krieges hatte Kampen immerhin 410 Einwohner*innen. 39 Dorfbewohner starben im Krieg. In Kampen wie in allen anderen Inseldörfern stieg unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Bevölkerung sprunghaft an: Kampen nahm 1.927 Geflüchtete auf, von denen ein Drittel nach 1947 blieb. Heute liegt die Zahl der Dorfbewohner*innen seit ein paar Jahren ziemlich konstant bei 500 Menschen.

Merih Gilavci

„Zur Schule gehe ich lieber hier“

Der zwölfjährige Merih Gilavci lebt mit seinen Eltern und seinen beiden kleinen Schwestern in Wenningstedt. Seine Sommerferien verbringt er am liebsten in der Türkei.

Merihs Augen strahlen, wenn er von seinen Lieblingsmenschen spricht. „In den Sylter Sommerferien bin ich immer in der Türkei - bei meiner Tante Nazli in Karşiyaka. Das ist in der Provinz Izmir. Sie ist Friseurin, eine sehr gute sogar“, versichert der Schüler der 5. Klasse im Schulzentrum Sylt mit Nachdruck.

Dass Mitschüler und Freunde internationale, bunte und manchmal auch dramatische Lebenswege haben, ist für ihn so wenig aufregend wie ein Sylter Wintersturm. Multikulturelles Leben ist auf Sylt Alltag: Rund 20 Prozent der Sylter*innen besitzen eine andere erste Staatsbürgerschaft als die Deutsche. 

Seine Geschichte geht so: Die Familie seines Vaters ist senegalesischer Abstammung und lebt in der Türkei. Mit seiner Oma und seiner liebsten Tante pflegt Merih einen engen Kontakt, mit seinem leiblichen Vater hingegen nicht. „Meine Eltern haben sich getrennt. Dann ist Mama, ich war noch ganz klein, zurück zu ihren Eltern nach Gaziantep. Mama hat zum Glück irgendwann meinen Papa kennengelernt - in einem Einkaufszentrum sind die beiden sich zum ersten Mal begegnet. Heute sind wir eine Familie mit drei Kindern. Meine kleinen Schwestern und ich“, erzählt Merih. Merihs Papa, Tolga Er, ist ebenfalls türkischer Abstammung und in Flensburg in einer XL-Familie aufgewachsen. Lange Jahre arbeitete er auf Sylt bei Jürgen Gosch in verantwortungsvoller Position. 

Für Tolga und seine Frau Hatice war es eine gravierende Entscheidung, sich für ein Leben als Familie auf Sylt zu entscheiden, dort, wo Tolga schon ein paar Wurzeln geschlagen hatte. Für Merihs Mama wurde der Start auf der Insel alles andere als leicht. Für Merih selbst ebenso wenig. „Meine kleinen Schwestern Zeynep und Hirah hatten es einfacher. Sie kannten nichts Anderes.“ 

Mit der Sprache kam dann allmählich das positive Lebensgefühl. Heute ist Hatice selbstständige Unternehmerin und betreibt auf Sylt erfolgreich eine Reinigungsfirma. „Ich lebe jetzt seit über fünf Jahren in Wenningstedt. Als die Osterwiese* fertig wurde, sind wir da eingezogen. Das ist cool, weil meine besten Freunde wohnen direkt nebenan. Ich liebe die Natur auf Sylt und die Sicherheit - man kann immer alleine rausgehen. Und die Schule ist auch okay. Meine Freunde in der Türkei erzählen nicht so viel Gutes von ihren Schulen. Aber das Leben dort, das mag ich sehr. Es ist viel fröhlicher“, lautet Merihs differenzierte Betrachtung. 

Seine Pläne für die Zukunft? Erstmal möchte er auf Sylt seine Leidenschaft fürs Tanzen intensiver leben. Es gibt ein neues Projekt, für das er brennt. Zufrieden ist er auch, dass es für ihn in der Schule besser läuft als noch zu Grundschulzeiten. „Ich weiß noch nicht, was ich mal werden möchte. Ist ja noch Zeit. Vielleicht Frisör - wie meine Tante. Ich kann mir gut vorstellen, in der Türkei zu leben. Mal sehen, vielleicht bleib ich ja auch hier“, meint Merih und stapft durch den Schnee.

*Die Osterwiese ist ein Wohnprojekt für Familien in Wenningstedt, dass die Gemeinde entwickelt und realisiert hat. Einzug war im Sommer 2018.

Halima Elkasmi

„Practice what you preach!“

Freigeist Halima Elkasmi ist auf Sylt angekommen - bei sich selbst sowieso. Die Yogalehrerin mit marokkanischen Wurzeln hilft auch anderen dabei, in die eigene Kraft zu kommen.

Die Zeit, als Sylt den idealen Nähboden für Freigeister bot, siedeln Inselkenner wohl eher im letzten Jahrhundert an - Schwerpunkt 50er bis 90er Jahre. Gret Palucca, Valeska Gert, Maler Sprotte oder Wirte wie Klaus Bambus… Das Image der Insel speiste sich zu Teilen aus seinen „bunten Vögeln“. Heute ist die Zahl der Locals mit exzentrischen Lebensentwürfen eher klein. Bohème und Avantgarde sind dem Mainstream gewichen. Eine Handvoll Künstler und Kreative, kantige Gastgeber und Freigeister, denen das Leben am Meer, im freilassenden Insel-Mikrokosmos den Nährboden bietet, findet man aber glücklicherweise immer noch. Halima Elkasmi ist ein Paradebeispiel.

Gerade kommt sie aus dem Meer. Kein spektakuläres Wintergeplansche vor Publikum wie beim Weihnachtsbaden. Es handelt sich vielmehr um Halimas stillen Akt, das Leben zu feiern. Ein Ritual. Ein Anker. Der Moment, um sich mit sich selbst zu verbinden. „Reconnecting" ist das Schlagwort. „Ich setz mich einfach eine Weile ins eiskalte Wasser, atme und schaue, was mein Körper mir so erzählt. Herrlich ist das - man kommt bei sich selbst an“, versichert die Trainerin, Therapeutin und Lebenskünstlerin.

Das Werkzeug, um in Verbindung mit sich zu treten, ist für Halima der Schlüssel zu einem glücklichen Lebensentwurf. Und diese Methoden gibt sie in Workshops, Trainings, Vorträgen und Retreats weiter. Wenn sie nicht gerade in der Welt arbeitet, lernt oder reist, ist sie seit Jahren am liebsten Sylterin. Die Insel bietet ihr Verwurzelung, Überschaubarkeit, Zuhause, dörfliche Nähe, vor allem aber die Freiheit und Toleranz, die sie braucht, um zu blühen.

Aufgewachsen ist sie mit neun Geschwistern und einer glücklichen Kindheit dort, wo noch vor kurzem Kohle abgebaut wurde. Das war nämlich der Job ihres geliebten Papas. Die bestmögliche Version ihrer selbst zu werden und sich dafür von allen Schablonen zu befreien, das Fundament dafür hat sie von ihrer Familie bekommen. „Ich konnte als Kind nie still sitzen. Statt mir Medikamente zu geben, haben meine Eltern mich mit Sport gefordert. Ich trainierte Taekwondo und brachte es bis zur Jugendweltmeisterschaft“, berichtet das Temperamentsbündel.

Früh musste sie mit Schmerzen und Verletzungen umgehen. Beim Spiel mit Pfeil und Bogen verlor sie ein Auge. Im Sprunggelenk musste ihr Knorpel transplantiert werden. Sie merkte, dass sie ihre Haltung ändern, ganzheitlicher leben musste, um schmerzfrei und gesund zu sein. Sie wurde in Indien Yogalehrerin und erwarb viele weitere Qualifikationen, Anatomie und Neurologie begeisterten sie insbesondere.

Das moderne Bewegungstraining à la Halima hat nur am Rande mit vertrauten Konzepten zu tun. Mit ihr klingt es, den eigenen Körper auf allen Ebenen neu zu entdecken, vergessene Bewegungen zurückzuerobern. Die schöne Frau mit den marokkanischen Wurzeln hilft auch Sportler*innen mit Verletzung,  wieder voll in die Kraft zu kommen. „Einfach mal machen. Wenn meine Klienten bereit sind zu üben, kommen wir zum gewünschten Ziel“, weiß sie. „Practice what you preach“,  ist noch so ein Grundsatz, der Halima überzeugend macht.

Mit ihrer umtriebigen Veranlagung braucht sie die unterschiedlichsten Aktivitäten, um ausgelastet zu sein. Natur und Strand sind ideal zum Auspowern und um wieder in die Mitte zu finden. Dass Hyperaktivität eine Qualität und kein Makel ist, wenn man sie in die richtigen Bahnen lenkt, beweist sie täglich. „Nicht gegenan arbeiten, sondern damit umgehen“, ist ihr Credo. Daher überrascht es auch kein Stück, dass sie als Puzzleteil ihres bunten Portfolios manchmal - wie schon vor 15 Jahren - als Servicekraft im „Samoa-Seepferdchen“ aushilft.  „Ich liebe den Job. Er fordert mich und hat mir damals meine vielen Ausbildungen und Reisen finanziert. Jeder Abend hat eine eigene Dramaturgie. Es ist wie auf einer Bühne. Wenn Du voll fokussiert bist, wird die Vorstellung gut.“ 

Heinz Maurus

Vom Matrosen zum Vollblut-Politiker

Ein Bayer auf Sylt. Wahl-Sylter und Vollblut-Politiker Heinz Maurus segelt heute in ruhigeren Gewässern. Ehrensache, dass er sich aber weiterhin auf allen Ebenen engagiert.

Ob er wohl noch auf Sylt lebt? Ja, das tut er. In Tinnum. Mit seiner Frau Edeltraud, oft in Gesellschaft seiner Enkelkinder. Ohne seinen Zuhauseort in den letzten Jahrzehnten je in Frage gestellt zu haben. „Die Insel war immer gut zu mir. Ich verdanke ihr viel. Meine Frau und ich könnten uns gar nicht vorstellen, woanders zu leben“, versichert Heinz Maurus. 

Sylt und vor allem die Inselmenschen in ihrer Kantigkeit haben ihn vorbereitet, um als CDU-Landtagsabgeordneter, Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei (um nur einige seiner Funktionen zu nennen) eine politische Karriere hinzulegen, die sich gewaschen hat. Auf der Insel konnte er sich in den 80er und 90er Jahren als Bürgermeister von Sylt-Ost* und als Amtsvorsteher warm laufen. Dabei entstand eine tiefe Verbindung, die man nicht aufgibt, wenn man ihren Wert kennt.

Viele Jahre pendelte Heinz Maurus in unerschütterlicher Weise zwischen Berlin, Brüssel und Tinnum hin und her. „Ich habe versucht, so oft es geht, an den Wochenenden nach Sylt zu kommen“, versichert er. Den Alltag im Familienleben mit drei Kindern überließ er mit seiner übervollen Agenda eher seiner Frau. „Ich war eben oft nicht da. Auch schon, als ich noch auf Sylt arbeitete. Einiges würde ich in der Nachbetrachtung vielleicht anders machen“, meint Heinz Maurus nachdenklich. 
 
Aktuell bemüht er sich redlich, mit kurz über 70, den Schwerpunkt auf das Reisen mit dem Wohnmobil und Segeltörns mit Freunden und Familie zu verlegen. Aber so ganz kann der leidenschaftliche Wirklichkeitsgestalter nicht aus seiner Haut. Als Präsident des „Marinebundes“ ist er der Mariner a.D. „back to the roots“. Maritime Belange stehen auch in seinem zweiten größeren Projekt im Fokus: Er nutzt Netzwerk und Verhandlungsgeschick für die Belange des „Vereins der Muschelzüchter“. Er ist Vorsitzender der Erzeugerorganisation, in der auch „Dittmeyer’s Austernompagnie“ und die Hörnumer Miesmuschelfischer vertreten werden. Dazu kommen natürlich noch diverse Mitgliedschaften und Ehrenämter, auch bei Sylter Traditionsvereinen - all das: Ehrensache… Aber auch ein Grund, warum die Agenda nach wie vor voll ist.

Darf man den Wahl-Sylter mit der respektablen Polit-Karriere nun eigentlich als Sohn der Insel bezeichnen? Streng genommen natürlich nicht. Aber er ist ein Vorzeigebeispiel dafür, was passiert, wenn jemand auf der Insel den richtigen Ton und seinen Nährboden trifft. Geboren und aufgewachsen ist Maurus in Kaufbeuren im Allgäu. Dort war es der Freund seines Papas, ein U-Boot-Fahrer, der ihm überzeugend versicherte: „Junge, wenn Du was erleben willst, dann geh zur Marine.“ So landete er in Glückstadt und im Januar 1972 als „Sani“ in List, damals Sitz der riesigen Marineversorgungsschule (MVS). „Ehrlich gesagt: Als ich mit dem Bus durch die Mondlandschaft Richtung Kaserne fuhr, dachte ich erst: ,Wo bist Du denn bloß gelandet?’“ Aber seine Haltung veränderte sich schnell. Bei Licht betrachtet gefiel ihm auch die Mondlandschaft, und er fühlte sich wohl mit seiner Entscheidung für eine Laufbahn bei der Marine. Er absolvierte die diversen Steps einer militärischen Karriere mit Bravour. 

Heinz Maurus gewann Freude an der Politik und die Politik an ihm - auch wegen seiner Fähigkeit, Visionen pragmatisch auf den Boden zu bekommen. Seine Geschichten über das Leben und Tun dieser Jahre auf Sylt könnten Bände füllen. Eine kleine Anekdote, die eher in die Abteilung „unterhaltsam“ als „politisch-faktisch“ gehört: „Der jetzt verstorbene Wolfgang Schäuble verbrachte seine Ferien immer auf Sylt. In kleiner Runde fragte er mal an, ob ich wüsste, wohin er wohl seine vertraulichen Faxe schicke lassen könnte. Ich verwies auf mein Bürgermeisterbüro in Keitum. Fortan tüteten wir dort immer die Faxe des Innenministers in geheime Umschläge. Es gibt noch immer diese dörfliches Miteinander, aber eben auch die große Welt. Und das verbindet sich so schön“, bringt Maurus eine Qualität seiner Heimatinsel auf den Punkt.

Dass er beide Bühnen, die dörfliche wie die große, bespielen konnte, bewies er eindrucksvoll. Wenn er inzwischen wieder mehr Zeit auf Sylt verbringt, würde er sich nicht nochmal einmischen wollen in die Inselpolitik - Amerikas Präsident ist über 80? Was würde er Sylt raten? „Gar nichts, das steht mir nicht zu. Ach vielleicht nur das eine: Wir haben schon damals den insularen Geist beschworen. Der ist der Schlüssel zu allem. An einem Strang zu ziehen - ist das A und O.“

*Bevor die Sylter Ostdörfer, Rantum und Westerland 2009 zur Gemeinde Sylt fusionierten, bildeten Munkmarsch, Keitum, Archsum, Morsum und Tinnum die Gemeinde Sylt-Ost. Rantum und Westerland waren eigenständige Gemeinden - wie bis heute List, Wenningstedt-Braderup, Kampen und Hörnum.

Ambroise Gaglo

„Wenn ich irgendwie helfen kann…!“

Ambroise Gaglo in seinem Büro bei einem Beratungsgespräch.

Die Liste der Projekte, die Ambroise Gaglo in den letzten 29 Jahren auf Sylt und in der Welt kulturell und humanitär auf die Beine gestellt hat, ist meterlang. Um die Kreativität und Unermüdlichkeit des Sylters besser zu verstehen, bietet sein Schicksal ein Puzzleteil. Ambroise kam 1995 als Asylsuchender aus Togo nach Sylt. Er lebte zwei Jahre lang im Mini-Container-Dorf, das damals unmittelbar neben dem Golfplatz improvisierte Herberge für ihn und viele andere war, weil es keinen adäquaten Wohnraum gab. Dass geflüchtete Menschen verschiedener Herkunft aus dem selben Grund nun bald wieder in Containern, nur eben auf dem Flughafengelände, leben werden, lässt ihn natürlich nicht unberührt.

 „Aber lass uns über das sprechen, was man Gutes tun kann“, wird er sagen und resümiert damit, was ihn ausmacht. Als er nach Sylt kam, hatte er seinen Bruder hier, er konnte die Sprache, hatte Deutsch ziemlich perfekt gelernt und den festen Vorsatz, das Beste aus seinem Leben auf der Insel zu machen. „Sprache ist der Schlüssel. Das sage ich auch jedem, der in meine Beratung kommt. Sie öffnet Türen und Herzen. Damals wollte ich unbedingt zur Polizei. Ich habe noch einen Ordner mit meinen Bewerbungen - darunter auch die wenig inspirierte Absage, dass es für einen Asylbewerber völlig unmöglich sei, zur Polizei zu gehen“, erinnert er lachend, auch über die eigene Naivität von damals.

Ambroise wäre nicht er selbst, wenn ihn die damalige Absage wie auch alle Rückschläge, die noch folgen sollten, langfristig erschüttert hätten. Vor 24 Jahren besuchte er in Niebüll eine Berufsfachschule für Sozialpädagogik und arbeitet seit 2011 bei der Gemeinde Sylt in der offenen Ganztagsschule in Westerland. Ambroise bot aber auch von Anfang an musikalische Projekte, seine Trommelkurse, seine Multikultifeste an. Er engagiert sich für ein gesellschaftliches und kulturelles Zusammenleben und positioniert sich gegen Ausgrenzung und Rassismus. In alldem war er in drei Jahrzehnten beständig mit immer wieder neuen Ideen am Start. Nicht zuletzt, um seine afrikanischen Wurzeln zu ehren und um eine sinnvolle Verbindung zwischen seiner alten und seiner neuen Heimat herzustellen, entwickelte er das Konzept für den „Yes Award Sylt“. Das „YES“ steht dabei für „Yearly Education Support“: In Lomé, Togos Hauptstadt, wird durch das Projekt jeweils ein junger Mensch zwischen 16 und 20 Jahre künftig in Form eines Stipendiums in seinen Studienvorhaben gefördert. Sponsoren werden dringend gesucht. Gerne informiert Ambroise über seinen Award: yesawardsylt17@gmx.de

Er berichtet von einem Kultur-Fest der afrikanischen Community in der Niebüller Stadthalle. Geplant für den Sommer 2024. Sie sind noch im Gespräch mit der Stadt Niebüll. Die Zeit drängt. Denn jetzt hat er einen Termin mit einer afrikanischen Familie. Für eine Beratung in seinem Büro in der Stephanstraße in Westerland. Drei Sylter*innen bieten Beratungen für Menschen, die planen, auf der Insel zu leben und zu arbeiten. Es gibt auch eine polnischsprachige Sprechstunde und eben Ambroise mit englisch, französisch und zwei afrikanischen Sprachen. Etwa zwei bis drei Beratungen macht er dort wöchentlich im Schnitt. 

Die Wege, wie die Menschen zu ihm finden, sind bunt wie das Leben. Manchmal spricht er auch Menschen an, die er noch nicht kennt. „Ja, die 300 Menschen der afrikanischen Community kenne ich eigentlich alle. Ich liebe ja das Familiäre, Überschaubare an Sylt. Ich könnte nicht in Hamburg leben.“ Kurze Wege und sein Wissen darum, an wen man sich wendet, um effektiv zu helfen, sieht er als große Qualität seiner Sylter Lebenswirklichkeit. „Wir können hier viel erreichen - unabhängig von der Problemstellung. Wenn jemand unter Diskriminierung leidet, genauso, wie wenn es Fragen nach Sprachkursen, Schulen, Jobs, der Wohnungssituation gibt. Bei der Wohnungssuche kann ich natürlich nur Tipps geben. Da würde ich gerne mehr helfen können.“

>> Alle persönlichen Berater*innen <<

Wer keine Fragen hat, aber auf Sylt arbeiten möchte, kommt hier direkt zur Jobbörse:

Greg Baber

„I will never leave Sylt!“

Einen seiner überzeugendsten Botschafter hat Sylt in Greg Baber. Für „Natürlich Sylt“ hat der Naturbursche aus Seattle mit seiner Samtstimme und seinem unverkennbaren „accent“ sein Kapitel aus dem Buch „Mensch, Kampen!“ eingelesen und verrät, warum er überhaupt niemals woanders leben könnte….

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Greg Baber steht auf einem Holzweg an einem Kampener Strandübergang.
© Nicole Mai für „Mensch, Kampen!“

Nina Krainz

Sie war dann mal weg!

Sie ist nicht geblieben, aber sie kommt immer wieder: Nina Krainz zog aber vor 15 Jahren aufs Festland und pendelt seitdem nach Sylt. Die Idylle von Büttjebüll entschädigt für jede verspätete Bahnminute.

5.16 Uhr - Abfahrt Bahnhof Langenhorn. Ankunft zuhause: nie vor 16 Uhr. Unter drei Stunden für den Weg zur Arbeit von ihrer Haustür im idyllischen Büttjebüll zur Wenningstedter SyltKlinik und zurück? „Das wäre unrealistisch. Ich brauche eher länger. Denn es gibt ohne Übertreibung nicht viele Tage, an denen das mit der Bahn komplett reibungslos läuft“, weiß Nina Krainz, die mit ihrem 20-köpfigen Team dafür sorgt, dass sich die Familien während ihrer Reha in der SyltKlinik pudelwohl fühlen und mit gesundem Essen verwöhnt werden.

Allerdings fährt Nina jetzt schon seit einem Jahr gar nicht mehr zur Arbeit: Sie wurde im Januar 2023 auf dem Weg zum Bahnhof Langenhorn von einem Autofahrer übersehen und einfach umgefahren. Die Verletzungen im Bein heilen nur langsam. „Die Dankbarkeit noch am Leben zu sein, ist stärker als jedes andere Gefühl. Die Sicht auf das Leben hat sich verändert“, versichert sie. 

Wenn es demnächst wieder mit dem Pendeln losgeht, wird sie das mit Gleichmut angehen, so wie eh und je. „Wir wohnen jetzt seit 2007 auf dem Festland. Die Entscheidung, Sylt als Lebensmittelpunkt zu verlassen, habe ich nie bereut, obwohl ich die 15 Jahre Inselleben sehr genossen habe. Aber wenn ich hier jetzt abends in die Idylle von Büttjebüll eintauche, weiß ich immer warum“, beschreibt Nina. 

Was sie dagegen als große Zeitverschwendung empfindet? „Wenn die Bahn-App sagt, alles sei paletti und ich dann trotzdem am Bahnhof stehe und warte. Da könnte ich morgens lieber noch einen heißen Tee trinken und nachmittags länger arbeiten.“ Die Fahrt selbst nutzt sie für nette Gespräche mit Pendler-Freund*innen, für einen Powernap, vor allem aber für „Train-Office“: „Ich kann in den 50 Minuten wunderbar planen und organisieren.“

Ihre Arbeit in der SyltKlinik verhilft ihr seit 2,5 Jahrzehnten zu einer sinnerfüllten Lebensaufgabe. Eintauschen möchte sie diese Qualität nicht. „Ich bin gelernte Köchin und direkt nach der Ausbildung 1992 nach Sylt gekommen, erst in die ,Vogelkoje’, dann in die SyltKlinik. In meinem Beruf könnte ich mir keine bessere Position vorstellen, als die, die ich heute habe“, versichert sie mit Vorfreude, demnächst wieder loszulegen. 

Neben Familie, Beruf und Freunden gibt es für Nina noch einen anderen Lebensinhalt, der eigentlich der Auslöser war, warum sie vor 15 Jahren von Sylt wegzog. „Wir hatten damals fünf Hunde, vier Katzen, 30 bis 40 Schafe - auch für die artgerechte Haltung unserer Border-Collies - und zwei Pferde. Viele unserer Freizeitaktivitäten hatten mit den Tieren zu tun - Seminare und Workshops. Und wir sind auch mit den Tieren in den Urlaub gefahren. Sylt war einfach zu weit weg von allem und zu klein geworden für unseren Zoo“, meint sie lachend. 

Die Konsequenz: Sie machte sich mit ihrem Mann, dem gebürtigen Wenningstedter Jörg-Eric Zarth, auf die Suche nach einem Resthof auf dem Festland. Nach einer charmanten Zwischenstation lebt die Familie heute in der ehemaligen Schule in Büttjebüll - und Platzmangel gibt es da wirklich nicht zu beklagen. „Als mein Sohn noch kleiner war, waren an manchen Tagen alle seine Bezugspersonen zum Arbeiten auf Sylt. Für den Fall eines Sturmes, Streiks oder anderer Widrigkeiten hatten wir da immer ein gutes Back-Up an Menschen - man weiß ja nie“, erzählt Nina.

  • Text: Imke Wein

Zahlen, Daten, Fakten

Die offiziellen Meldedaten

Die Sylter Inselverwaltung vermeldete zum 21. Dezember 2023 genau 19.969 Menschen mit Hauptwohnsitz. Die „aktive“ Sylter Bevölkerung ist real wahrscheinlich etwas kleiner: Man kann davon ausgehen kann, dass um die zehn Prozent der Gemeldeten nicht ganzjährig auf Sylt lebt.

6.962 Personen meldeten ihren Zweitwohnsitz auf der Insel. Dazu kommen geschätzte 4.000 Pendler*innen zum Arbeiten über den Bahndamm. Mit rückläufiger Tendenz. Immer weniger Arbeitnehmer*innen wollen die Widrigkeiten der An- und Abreise in Kauf nehmen. Sylt verzeichnet derzeit etwa 1.000 offene Stellen. 100 Ausbildungsplätze blieben unbesetzt.

Internationales Sylt

Wunderbar multikulturell setzt sich die Inselbevölkerung zusammen: 115 verschiedene Nationalitäten leben und arbeiten gemeinsam auf der Insel. 20,3 Prozent der Bevölkerung hat eine andere Staatsbürgerschaft als die deutsche. 1.288 Sylter besitzen einen polnischen Pass. 315 Menschen aller Generationen stammen ursprünglich aus einem afrikanischen Land, davon sind wiederum 131 Menschen Ghanaer*innen. Zu den größeren Bevölkerungsgruppen gehören auch die Ukrainer*innen (298 Personen), gefolgt von Menschen aus Rumänien (279) und Kroatien (189). Mit je einer gemeldeten Person verzeichnet sind Wahl-Sylter*innen z.B. aus Peru, aus Island, Südafrika, Luxemburg oder Mozambique.

Lebensraum Sylt

Rückschlüsse auf Sylt als Lebensraum lässt auch Umfrage zu, die die „Sylt Marketing“ Ende 2020 an alle mündigen Sylter*innen verschickte. Die repräsentative Befragung war die erste ihrer Art. Alle Antworten auf die Frage, wie die Sylter eigentlich ticken, gibt es hier: 

  • Nur 40 Prozent der Bevölkerung ist hier aufgewachsen

  • Von den 49 Prozent Zugezogenen kamen 29 Prozent wegen des Jobs, 11 Prozent wegen der Liebe und 9 Prozent, um hier ihren Ruhestand zu verbringen.

  • Mit 55 Jahren liegt das Durchschnittsalter der Sylter Bevölkerung relativ hoch. Der Durchschnittsdeutsche ist über zehn Jahre jünger.

  • Etwas über 700 Kinder und Jugendlichen besuchen das Sylter Schulzentrum. 1.963, also nur 9,8 Prozent der Sylter*innen, sind unter 16 Jahren alt. Deutschlandweit gehören 17 Prozent zu dieser Altersgruppe.

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