© SMG/Holm Löffler

Natürlich Sylt

Der paradiesische Braderuper

Er ist berühmter als Heidi Klum, sieht knackig aus, ist robust und steht voll im Saft. Oder besser gesagt im Smoothie. Seit Jahrhunderten fest in der friesischen Tradition verankert, geniesst der Grünkohl als deutscher Exportschlager internationalen Kultstatus. Wohlverdient, wenn auch etwas überraschend.

Eckehard Volquardsen bei der Grünkohlernte
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»Sie brauchen noch mehrere Kilos? Nein, tut mir Leid, wir sind restlos ausverkauft«, entgegnet Bettina Volquardsen ihrem Gegenüber auf der anderen Seite der Telefonstrippe, beendet das Gespräch mit ihrer locker flockigen Art und widmet sich schließlich wieder dem frisch gekochten Kaffee. Kurze Zeit später, als hätte er es geahnt, betritt Ehemann Eckehard die Küche. Er nimmt die Mütze ab und legt sie auf den Küchentisch, die Stiefel wurden bereits im Flur ausgezogen, mit ihm hineinstürmt Hofhund Paul, der Bettina euphorisch begrüßt. Bettina gießt ihrem Mann etwas Kaffee mit einem Schuss Milch in eine Tasse, parallel läuft das Telefon erneut heiß. Auch diesen Anrufer muss sie abwimmeln, denn »der Grünkohl ist leider ausverkauft«.

Es sind nur noch wenige Tage bis zum Biikebrennen, dem inoffiziellen offiziellen Nationalfest der Friesen, eine heißgeliebte Sylter Tradition. Hierbei spielt der Grünkohl definitiv eine Hauptrolle. »Grünkohl mit alles« schimpft sich nämlich das beliebte Essen, das am 21. Februar auf den insularen Restaurantkarten zu finden ist. Das gibt es im Anschluss an das Biikefeuer, nachdem das Fass oder die Strohpuppe »Pidder« endlich gefallen sind und der Winter erfolgreich verabschiedet wurde. Kochwurst, Kasseler, Speck und karamellisierte Kartoffeln komplettieren das üppige Gericht, das man sich einmal im Jahr in geselliger Runde gönnen kann. Und obwohl die Haupterntezeit des Grünkohls schon längst vorüber ist, versuchen einige Sylter Köche noch immer ihr Glück. »Wieso sie nicht vor Wochen schon angerufen haben fragt man sich schon«, zeigt sich Bettina etwas nachdenklich. Denn den Sylter Grünkohl gibt es inselweit nur bei Familie Volquardsen im Erdbeerparadies in Braderup, dem einzigen ökologischen Bauernhof auf Sylt. Seit 1982 bauen Eckehard und Bettina das beliebte Gemüse an. Früher gab es mehrere, heute haben sie unbeabsichtigt eine monopolartige Stellung eingenommen. »Ich finde das nicht so schön eigentlich. Falls unsere Ernte, aus welchen Gründen auch immer, nicht so gut ausfallen sollte, dann haben wir keine Möglichkeit auf einen Kollegen zu verweisen. Da fühlt man sich doch manchmal etwas einsam«, erklärt Eckehard, der sich noch einen großen Schluck Kaffee aus der Tasse genehmigt, um sich dann wieder gen Feld aufzumachen.

Grünkohl bei Volquardsen
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Eingepackt in einen Schneeanzug und dennoch ohne Handschuhe zupft Eckehard die letzten bilderbuchbuschigen Grünkohlblätter ab. »Mit den bloßen Händen habe ich ein besseres Gefühl und kann genauer greifen«, der Mann ist hart im Nehmen, keine Frage. »Aber die Kälte kann einem schon zu schaffen machen. Hinzu kommt die gebückte Haltung, das geht auf den Rücken«, so Eckehard. Geerntet wird ausschließlich per Hand, rund 40 Kilo machen Vater und Sohn Jens pro Stunde, »je nachdem wie der Wind weht und man den Büddel halten muss«. Jens, der den Familienbetrieb das ganze Jahr über tatkräftig unterstützt, befindet sich gerade in Irland auf der Suche nach der perfekten Welle. Noch so einer, dem die Kälte nichts anhaben kann. Als waschechtes Inselkind ist der junge Mann passionierter Surfer, ist doch klar. Dass Jens verreist ist, sieht Eckehard locker, denn die große Ernte ist durch und die wichtigste Arbeit getan. Hängen gelassen wird hier nämlich niemand, die Volquardsens halten zusammen, vollkommen freiwillig. Sogar Tochter Rieke tritt in die Fußstapfen der Eltern und studierte Agrarwissenschaften. Die Kinder, die alterstechnisch mittlerweile weit vom Kind sein entfernt sind, sind mit Leidenschaft bei der Sache, testen und probieren im Rahmen der gestrengen Ökorichtlinien. Und darauf kommt es an. Im Erdbeerparadies ist alles Bio, was Bio zu sein hat und darüber hinaus. Hier schmecken die Tomaten wie Tomaten zu schmecken haben, saftig intensiv und unfassbar tomatig. Die Erdbeeren sind so köstlich süß, jedes zusätzliche Zuckerkorn wäre eine Untat. Und auch der Grünkohl mit seinen palmenartigen knackigen Blättern ist von bester Qualität.

Grünkohlernte mit Eckehard Volquardsen
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Wieso also auf Ware von außerhalb zugreifen? Eine Frage, die sich Juniorchef Jens Lund des gleichnamigen gastronomischen Familienbetriebes »Lund Sylt« in Hörnum schon vor einiger Zeit gestellt hat. Seither kauft er mittwochs auf dem Volquardsen-Hof ein. Mittlerweile gehören die Lunds gastronomisch gesehen zu den größten Sylter Grünkohlabnehmern inselweit. Und zwar ganzjährig, denn das Image des einstigen Wintergemüses ist längst überholt. Ursprünglich hieß es, dass der Grünkohl frühestens nach dem ersten Frost geerntet werden könnte. Erst dann würden die Grünkohlzellen aufplatzen und ein Teil der darin enthaltenen Stärke in Zucker umgewandelt, folglich verschwinden die Bitterstoffe und der Grünkohl wird bekömmlicher. Es gibt einige Sorten, bei denen es durchaus noch so gehandhabt wird, doch wer den Sylter Grünkohl schon mal im Sommer gekostet hat, wird feststellen, dass sich die Zeiten geändert haben. »Der schmeckt keineswegs bitter, macht sich sogar prima als Ceasar Salad, Pfannengemüse oder auch Eis«, weiß Küchenchef Jens Lund.

Aber so richtig warm werden die Deutschen mit ihrem Traditionsgemüse abseits von Pinkel und Co. bislang nicht. Anders als die Amerikaner. Sie beförderten den Grünkohl zum Superfood, hofierten ihn von L.A. bis NYC mit Pauken und Trompeten. Das Trendgemüse Grünkohl. Wer hätte es gedacht? Für die Volquardsens ist dieser ganze Hype natürlich nichts Neues, sie wissen seit jeher was in ihm steckt, welche Vitamine und gesundheitsfördernden Stoffe. Mit seinem Vitamin C-Gehalt liegt er an vierter Stelle, gleich nach Paprika, Rosenkohl und Brokkoli. Wer sich die komplette Grünkohlbombe geben möchte, der kredenzt sich einfach einen »Greenie«, wie ihn die Volquardsens gerne nennen. Auf dem Wochenmarkt in Westerland ist das schon längst der absolute Renner, seine eingeschworene Stammkundschaft kann und will am liebsten nicht ohne ihn.
Zweifelsohne hat der Grünkohl viele treue Anhänger, manche von ihnen sind vielleicht etwas zu anhänglich. So zum Beispiel die niedlichen Kaninchen, die gerne an den sattgrünen Trieben knabbern. »Deswegen müssen wir direkt nachdem wir den Grünkohl im Mai auf dem Feld einpflanzen mit einem Fleece überdecken. Sonst wäre im Nu alles weggefressen. Manche sind so plietsch, die graben sich unter dem Fleece hindurch«, erklärt Eckehard etwas wehmütig, denn die ach so süßen Häschen können zu einer richtigen Plage werden und die Ernte gefährden. Wenn dieser Fall eintritt, dann muss schnell nachgepflanzt werden. Vierzehn Tage bleibt das Fleece drauf, danach brauchen die Pflanzen ihren Platz. Sie wachsen glücklicherweise relativ schnell, wenn denn die meteorologischen Bedingungen stimmen. Ausreichend Regen ist wichtig, zu warm und zu trocken darf es nicht sein, das gefällt ihm nicht auch wenn er sehr robust ist, der Sylter Grünkohl. Das zweite Jahr in Folge gibt es nun eine ganz besondere Sorte. Da haben sich die Kinder wieder etwas Nettes einfallen lassen. Am Ende der letzten Ernte haben Jens und Rieke die acht schönsten Pflanzen stehen und aufblühen lassen. Ganz zur Freude der Bienen und Hummeln, die sich über die gelben rapsähnlichen Blüten hergemacht und sie befruchtet haben. Übrig blieben nach dem Abblühen unzählige Samen, die nun für die kommende Saison genutzt werden. Mehr Sylter Grünkohl geht wirklich nicht. Wie die Familie das eigene Saatgut nennt? »Der paradiesische Braderuper«, wie auch sonst?

Text: Julia Petersen

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