Natürlich Sylt

Wem gehört Sylt?

Diese Frage drängt sich nach dem mehrwöchigen Corona-Lockdown und dem darauffolgenden Besucheransturm vielen auf. Auch Rainer Chinnow, Pastor der Norddörfer Kirchengemeinde, hat sich dazu auf und abseits der Kanzel Gedanken gemacht.

Pastor Rainer Chinnow
© Holm Löffler

Im Verzicht, so lehrt es die religiöse Fastentradition, lernt man das Fehlende zu schätzen. Zustimmend werden insbesondere die Sylter und Gäste nicken, die während ihrer unfreiwillig auferlegten Abstinenz ohne Sünde blieben, also das Beherbungs- und Betretungsverbot nicht versuchten zu umgehen. Die nicht mit Tricks und Ignoranz auf der einen und Anfeindungen und Ausgrenzung auf der anderen Seite versuchten, ihr vermeintliches Hausrecht durchzusetzen. Kaum war Sylt wieder für alle geöffnet und auf einen Schlag voll, wurde die vielbeschworene Sylter Gastfreundschaft weiter auf die Probe gestellt. Mehr und mehr löste sich die Interessensgemeinschaft Sylt auf in seine Bestandteile und befeuerte die Frage: Wem gehört Sylt? Den Syltern, den Gästen, den Zweiwohnungsbesitzern, den Erstwohnungsbesitzern, den Immobilienmaklern, den Investoren, den hier Geborenen, den Zugezogenen? Wer hat die Befugnis zu entscheiden, wer sich ohne schlechtes Gewissen auf der Insel aufhalten darf?

„Niemand. Der Mensch ist Gast auf Erden. Nichts, was er auf Erden besitzt, gehört ihm wirklich. Besitz ist dem Menschen für seine Lebenszeit nur geliehen. Das bedeutet für mich: Die Insel Sylt gehört niemandem. Sie ist allen Menschen in ihrer Schönheit geliehen.“ Pastor Chinnow besitzt die Gabe, die Menschen mit Gottes Wort immer und überall zu erreichen. Selbst dann, wenn er im Wenningstedter Pastorat zwischen einer Plexiglasscheibe und zwei Terminen sitzt. Sein Betrieb läuft anders in diesen Zeiten, aber fast schon wieder so normal, dass man Schwierigkeiten hat, ihn zwischen Gottesdienst und Andacht, Taufgespräch und Gemeinschaftsnachmittag zu erwischen. „Normalerweise sind wir nah bei den Menschen, was im Gegensatz zu den Abstandsregeln steht. Aber wir behelfen uns. Bei den Open-Air-Gottesdiensten müssen wir zum Glück niemanden mehr heimschicken.“

Ebenso abwegig findet er es, Menschen der Insel zu verweisen oder ihnen das Recht abzusprechen, auf Sylt zu sein. „Mich haben diese Auswüchse entsetzt. Das Denunzieren, das Verfolgen, das „Ihr gehört hier nicht hin“ haben mich schockiert.“ Beiläufig überprüft er den Abstand der Tische, die bereits für den allwöchentlichen Senioren-Gemeinschaftsnachmittag der Kirchengemeinde eingedeckt sind. Vielleicht sollte man dieses Ritual des regelmäßigen Miteinanders, das in den letzten Monaten so empfindlich ins Wanken geraten ist, ausweiten auf die ganze Insel. Vielleicht braucht es aber nur gesunden Menschenverstand und mehr Rückbesinnung auf einen respektvollen Umgang miteinander. „In diesen Zeiten fängt Respekt damit an, dass ich mich auf der Insel nicht so benehme, als wäre Sylt mein Eigentum. Und das gilt für jeden. Und Respekt endet noch lange nicht damit aufzuhören, von dem Gast und dem Sylter zu reden, als wären es zwei unterschiedliche und unvereinbare Welten. Zumal wir alle Gäste sind, hier und überall.“ Pastor Chinnow ist gerne zu Gast. Am liebsten in Venedig – eine Stadt mit ähnlichen Problemen wie Sylt sie hat. Das Gesetz der Anziehung gilt eben für alle schönen Orte dieser Welt. „Alle wollen zu Gast sein an besonderen Orten, das gilt auch für die Urlauber auf Sylt. Die meisten sind sehr dankbar, hier sein zu dürfen. Sie wollen verbunden sein mit dieser Insel, die ihnen ein Stück zweite Heimat ist.“

Auch der gebürtige Bielefelder hat seine Heimat, sein Paradies auf Erden auf Sylt gefunden. Seit 21 Jahren lebt der dreifache Familienvater gemeinsam mit seiner Frau Marion auf der Insel. Mit seiner unkonventionellen Art ist er in seiner Heimatgemeinde nicht nur äußerst beliebt, sondern auch weit über die Inselgrenzen hinaus bekannt. Der evangelische Geistliche tauft am Strand, traut Paare und feiert Gottesdienste unter freiem Himmel und zelebriert Fußball-Andachten und Public Viewing in der Friesenkapelle. Zudem ist er mittlerweile auch noch Youtube-Star – die Videoandachten, eine christliche Botschaft mit einem Gruß von einem schönen Ort auf Sylt, werden weltweit aufgerufen. Kein Wunder, dass die Zahl seiner Follower, sowohl in der realen als auch virtuellen Welt, rasant wächst. „Wir stellen uns auf die Situation ein, passen das, was wir tun, einfach konsequent an die Bedürfnisse an.“ Ist denn der Bedarf nach Spiritualität in den vergangenen Monaten gewachsen? Beten die Menschen mehr? „Das Nachdenken darüber, wie man Zeit verbringt und was wichtig ist im Leben, geht tiefer. Es kommen neue Fragen auf, wenn man plötzlich ganz auf sich allein gestellt ist.“ Einsam soll sich in seiner Gemeinde niemand fühlen. „Wir sind eine christliche Gemeinschaft, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht. Unterstützt wird jeder, der Hilfe braucht– wir leben und handeln nach dem Prinzip der Stärkere trägt den Schwächeren.

Seine eigene Stärke zieht er aus der Natur, die Braderuper Heide ist einer seiner liebsten Kraftorte auf Sylt. „Ich bin gerne allein und ich mag diese ruhigen Ecken, davon gibt es hier glücklicherweise genug. Man muss halt nur früh genug aufstehen.“ Um im Sommer ein stilles Fleckchen für die Aufnahme der Videoandachten zu finden, musste er allerdings schon sehr früh aufstehen, das gibt er unumwunden zu. Aber die Zeit der leeren Insel zurückwünschen? Nein! Klar habe es am 18. Mai, als die Insel nach neunwöchiger Quarantäne wieder für alle geöffnet wurde, alle überrollt. Der Gegensatz zwischen Leerlauf und plötzlicher Hochsaison sei schon extrem gewesen. Aber den Lockdown verklärt er auch rückblickend nicht. „Diese Zeit romantisiere ich nicht und fülle sie nicht mit Notalgie an. Die Ruhe hatte nichts mit Erholung oder Entschleunigung zu tun, sie war einfach nur surreal und für viele mit existenzieller Zukunftsangst verbunden.“ Abgesehen davon liege der Reiz der Insel für ihn in der Natur und auch darin, mit unterschiedlichen Menschen zusammenzukommen und sich auszutauschen. „Das macht doch diese Insel aus.“

Strandübergang in Wenningstedt
© SMG/Jan Blaffert

Mittlerweile sind seine Töchter aus dem Haus, er ist Opa geworden und sein Lieblingsverein Bayern München ist zum 30. Mal Deutscher Meister geworden. Sylt ist längst nicht mehr das unbekannte Neue für ihn. Dennoch fragt er sich jedes Jahr und in diesem Jahr eindringlicher denn je: Was müssen wir verändern? Wo gibt es einen Neubeginn? Er erzählt von Freunden, die ihren Betrieb nach der Saison, wann auch immer das sein wird, neu aufstellen werden. Und erklärt, was seiner Meinung für das große Ganze gefragt ist: „Wir brauchen gute Ideen und weise Entscheidungen, damit die Schönheit erhalten und Sylt ein lebenswerter Ort bleibt. Gott fordert Verantwortung von uns Menschen, die wir diese Insel lieben. Er hat uns Regeln mitgegeben für eine Kultur des Miteinanders. Dazu gehört auch, jene zu anzuhören und zu respektieren, die eine andere Meinung haben. Wir müssen damit aufhören Feinbilder zu kreieren und in Schubladen zu denken, hier die Guten, da die Bösen.“

Fast möchte man ihn bitten, diese Sätze mit aufzunehmen in die „Zehn Gebote“, die im Schaukasten am Eingang der Friesenkapelle hängen. Es sind „Zehn Gebote für den Gottesdienstbesuch“, damit jeder Besucher sich darauf einstellen kann, was in der Kirche gerade geht und was nicht. Auf dem Weg dorthin trifft er ein Ehepaar aus Frankfurt, Sylt-Gäste und Gemeindemitglieder seit Jahren. Es folgt ein kurzer aber herzlicher Schnack über Gott und die Welt, über Fußball und über die bevorstehende Silberhochzeit im nächsten Jahr. „Trage ich mir ein“, sagt Pastor Chinnow und rauscht weiter zum Weichnachts-Krippenspiel, das in diesem Jahr vorzeitig aufgenommen werden soll.

Die Gemeinde ist ein fester Bestandteil seines Lebens, viele Familien begleitet der Pastor von Wenningstedt-Braderup und Kampen seit Jahren – völlig egal, ob Einheimische und Gäste. Man teilt Freud und Leid. Und die Insel. „Ich teile die Insel gerne“, sagt Chinnow und erklärt, warum das in seinem christlichen Glauben fest verankert ist. „Gott hat uns Demut geschenkt: Demut beginnt damit, unsere Geburt und den Ort unserer Geburt nicht als unseren Verdienst zu betrachten. Demut lehrt Dankbarkeit. Wer Dankbarkeit empfindet, kann teilen.“ Seine Worte haben Gewicht, und doch tragen sie nicht schwer auf. Wie seine Halskette, ein Jade-Stein von den Maori. Er bedeutet von Meer zu Meer verbunden zu sein. Es ist ein Geschenk seines Schwagers, der in Neuseeland lebt. Ob er sich vorstellen kann, auch mal an einem anderen Meer zu leben? Pastor Chinnow zieht überrascht die Augenbrauen hoch: Irgendwann wegziehen? Sylt ist meine Insel, meine Heimat!

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