Im Verzicht, so lehrt es die religiöse Fastentradition, lernt man das Fehlende zu schätzen. Zustimmend werden insbesondere die Sylter und Gäste nicken, die während ihrer unfreiwillig auferlegten Abstinenz ohne Sünde blieben, also das Beherbungs- und Betretungsverbot nicht versuchten zu umgehen. Die nicht mit Tricks und Ignoranz auf der einen und Anfeindungen und Ausgrenzung auf der anderen Seite versuchten, ihr vermeintliches Hausrecht durchzusetzen. Kaum war Sylt wieder für alle geöffnet und auf einen Schlag voll, wurde die vielbeschworene Sylter Gastfreundschaft weiter auf die Probe gestellt. Mehr und mehr löste sich die Interessensgemeinschaft Sylt auf in seine Bestandteile und befeuerte die Frage: Wem gehört Sylt? Den Syltern, den Gästen, den Zweiwohnungsbesitzern, den Erstwohnungsbesitzern, den Immobilienmaklern, den Investoren, den hier Geborenen, den Zugezogenen? Wer hat die Befugnis zu entscheiden, wer sich ohne schlechtes Gewissen auf der Insel aufhalten darf?
„Niemand. Der Mensch ist Gast auf Erden. Nichts, was er auf Erden besitzt, gehört ihm wirklich. Besitz ist dem Menschen für seine Lebenszeit nur geliehen. Das bedeutet für mich: Die Insel Sylt gehört niemandem. Sie ist allen Menschen in ihrer Schönheit geliehen.“ Pastor Chinnow besitzt die Gabe, die Menschen mit Gottes Wort immer und überall zu erreichen. Selbst dann, wenn er im Wenningstedter Pastorat zwischen einer Plexiglasscheibe und zwei Terminen sitzt. Sein Betrieb läuft anders in diesen Zeiten, aber fast schon wieder so normal, dass man Schwierigkeiten hat, ihn zwischen Gottesdienst und Andacht, Taufgespräch und Gemeinschaftsnachmittag zu erwischen. „Normalerweise sind wir nah bei den Menschen, was im Gegensatz zu den Abstandsregeln steht. Aber wir behelfen uns. Bei den Open-Air-Gottesdiensten müssen wir zum Glück niemanden mehr heimschicken.“
Ebenso abwegig findet er es, Menschen der Insel zu verweisen oder ihnen das Recht abzusprechen, auf Sylt zu sein. „Mich haben diese Auswüchse entsetzt. Das Denunzieren, das Verfolgen, das „Ihr gehört hier nicht hin“ haben mich schockiert.“ Beiläufig überprüft er den Abstand der Tische, die bereits für den allwöchentlichen Senioren-Gemeinschaftsnachmittag der Kirchengemeinde eingedeckt sind. Vielleicht sollte man dieses Ritual des regelmäßigen Miteinanders, das in den letzten Monaten so empfindlich ins Wanken geraten ist, ausweiten auf die ganze Insel. Vielleicht braucht es aber nur gesunden Menschenverstand und mehr Rückbesinnung auf einen respektvollen Umgang miteinander. „In diesen Zeiten fängt Respekt damit an, dass ich mich auf der Insel nicht so benehme, als wäre Sylt mein Eigentum. Und das gilt für jeden. Und Respekt endet noch lange nicht damit aufzuhören, von dem Gast und dem Sylter zu reden, als wären es zwei unterschiedliche und unvereinbare Welten. Zumal wir alle Gäste sind, hier und überall.“ Pastor Chinnow ist gerne zu Gast. Am liebsten in Venedig – eine Stadt mit ähnlichen Problemen wie Sylt sie hat. Das Gesetz der Anziehung gilt eben für alle schönen Orte dieser Welt. „Alle wollen zu Gast sein an besonderen Orten, das gilt auch für die Urlauber auf Sylt. Die meisten sind sehr dankbar, hier sein zu dürfen. Sie wollen verbunden sein mit dieser Insel, die ihnen ein Stück zweite Heimat ist.“