Neun Wochen lang war Sylt weg vom Fenster, als Urlaubsinsel von einem Tag auf den anderen abgeschaltet. 63 Tage Isolation voller quälender Existenz- und Zukunftsangst sind nicht spurlos an Insel und Insulanern vorbeigegangen sind - zu heftig war der Einschnitt in das bestehende Ganze aber auch in das Leben jedes Einzelnen. So ganz nebenbei entdeckten viele Sylter ihre eigene Insel wieder neu. Sie verguckten sich im wahrsten Sinne des Wortes in ihre Schönheit und fühlten sich ihr in einer neuen Art und Weise verbunden. Das, was zwischen den Syltern, ihrer Insel und ihrer Beziehung zueinander passierte, ist Ausdruck einer wachsenden Sehnsucht nach Resonanz. Der Begriff Resonanz bezeichnet eine bestimmte Art, mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten: Etwas oder jemand berührt, bewegt oder ergreift nachhaltig. So nachhaltig, dass das Erlebte etwas in uns auslöst und Stimmung oder Einstellungen positiv verändert. Für den Soziologen Hartmut Rosa ist Resonanz ein Gegenentwurf zur fortwährenden Beschleunigung. Dabei sieht Rosa Beschleunigung nicht per se als etwas Schlechtes an („Niemand möchte langsames Internet oder eine langsame Feuerwehr“). Es geht weniger um die Langsamkeit an sich, als vielmehr um einen Zustand, in dem wir nicht ständig versuchen, alles zu kontrollieren und schnell und effizient zu regeln. In einem solchen Zustand lassen wir uns viel stärker von Begegnungen inspirieren – und das sei letztlich, so Rosa, die Grundlage eines gelingenden Lebens.
Bevor die Insel ihr ganzes Potenzial als Resonanzraum ausspielen konnte, kam die Normalität zurück. Mit einer Wucht, die alle überraschte, viele verängstigte und nicht wenige überforderte. Und die das Wort Normalität vorerst aus dem Inselvokabular verschwinden ließ. Aber für Befindlichkeiten dieser Art war keine Zeit. Auf einen Schlag war Hochsaison und die Maschinerie durfte wieder hochgefahren werden, von 0 auf 100. Endlich wieder Gäste, endlich wieder Austausch, endlich wieder Umsatz. Sylt war wieder im Rennen und schickte sich an, die über Jahrzehnte gelernte Rolle als Urlaubs- und Sehnsuchtsinsel wieder einzunehmen und auszufüllen. Aus der anfänglichen Euphorie wurde Ernüchterung, ausgelöst durch volle Straßen, lange Wartezeiten und Stress, potenziert durch die Faktoren Unsicherheit und Angst. Die Schlangen morgens beim Bäcker waren noch nie so lang – weil die Insel voll war, aber auch weil es plötzlich einen Sicherheitsabstand gab. Die Freude über einen freien Tisch im Restaurant war noch nie so groß – weil die Insel voll war, aber auch wegen des reduzierten Platzangebots und weitere Schutzmaßnahmen den Betrieb verlangsamten. Die Staus an den klassischen An- und Abreisetagen waren so nie so nervig, die Straßen noch nie so voll - weil die Insel voll war, aber auch weil man aus Angst vor Ansteckung lieber auf das eigene Auto anstatt auf den öffentlichen Personennahverkehr zurückgriff.
Während sich die wirtschaftliche Lage auf Sylt langsam stabilisierte, geriet das Gleichgewicht zwischen Heimat- und Urlaubsinsel immer mehr ins Wanken. Im Rückgriff auf die Ruhe und Stille während des Lockdowns wurden Stimmen lauter, Sylt sei zu voll und zu fremdbestimmt, Forderungen nach Begrenzung weiteren Wachstums und Möglichkeiten der Mitbestimmung vehementer. Lager formierten sich, Bürgerbewegungen gründeten sich und Anfeindungen spitzten sich zu. Sachliche Argumente blieben oft auf der Strecke, stattdessen verlor man sich in gegenseitigen Schuldzuweisungen und Vorwürfen. Es wurde viel geredet und geschrieben, aber meistens aneinander vorbei. An der Insel wurde gezerrt und gezogen, jeder hatte den Königsweg, nur keiner hörte dem anderen mehr zu. Fast hätte man den Eindruck gewinnen können, die Vorstellungen darüber, was Sylt als lebens- und liebenswerte Insel ausmacht und was notwendig ist, um Sylt als solche zu schützen, gehen meilenweit auseinander. Weit gefehlt. Denn bei allen unterschiedlichen Erwartungen, Interessen und Bedürfnissen herrscht doch weitestgehende Übereinstimmung was die grundsätzliche Ausrichtung und Entwicklung angeht: Allen ist bewusst, dass der Tourismus die Lebensader der Insel ist, dass die Ressourcen der Insel begrenzt und wertvoll sind und Wachstum nicht das Maß aller Dinge sein kann und darf.