© Holm Löffler

Natürlich Sylt

Lebendiger Friedhof

Der Wandel der Bestattungs- und Trauerkultur sorgt auf Friedhöfen für freie Flächen und leere Kassen. In Westerland steuert die Kirchengemeinde um und lässt naturnahe Gräber und Artenschutz-Oasen entstehen.

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Auf den ersten Blick ist der Neue Friedhof in Westerland eine Begräbnisstätte wie viele andere auch. Ein friedlicher Ort mit von Buchs und Eibe eingefassten Grabreihen, hochgewachsenen Hecken und altem Baumstand. Überall summen geschäftig Insekten und aus den Bäumen dringt lautes Vogelgezwitscher. Um die Blüten des Sommerflieders tanzen einige Schmetterlinge, eine Hummel versinkt in seinem Pollenstaub. »Es ist schon erstaunlich, wie schnell die Tiere die neu angelegten Staudenflächen annehmen«, sagt Johannes Sprenger und blickt zufrieden über das bunte Blütenmeer. Seit 2017 ist er für die Friedhöfe der Kirchengemeinde Westerland zuständig und maßgeblich für die Anlage der neuen, naturnahen Gemeinschaftsgrabflächen verantwortlich. »Bei der Bepflanzung haben wir uns von der bekannten englischen Gartenarchitektin Beth Chatto inspirieren lassen und auf eine ganzjährig spannende Optik ohne saisonale Wechselbepflanzung gesetzt. Also bei der Auswahl der Stauden darauf geachtet, dass sie nacheinander blühen, pflegeleicht und insektenfreundlich sind.« Den Friedhof als grüne Oase zu stärken und Biodiversität zu fördern – Gründe für diese Umgestaltung gibt es einige. Und Platz inzwischen mehr als genug. Denn die Bestattungs- und Trauerkultur hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert und unübersehbare Lücken zwischen den Grabfeldern hinterlassen. Immer mehr Wahl- und Familiengräber werden nach Ende der 25-jährigen Ruhezeit aufgelöst und nicht neu vergeben. »Wir bleiben auf diesen Flächen sitzen«, erklärt der Friedhofsmeister und das betriebswirtschaftliche Dilemma gleich mit: »Es fallen weiterhin Unterhaltungskosten an. Die Flächen müssen gepflegt werden, bringen aber keine oder nur noch wenige Einnahmen. Dadurch steigen die Kosten pro Grab.«

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Eine einfache Rechnung für Johannes Sprenger, der sechs Friedhofsgärtner beschäftigt, aber nur noch Einnahmen von 2900 Gräbern hat. Knapp 50 Prozent der insgesamt rund 5000 Gräber sind frei. Die Nachfrage nach traditionellen Gräbern nimmt mehr und mehr ab. Gefragt sind naturnahe Gräber oder Urnenbestattungen, die mittlerweile 70 Prozent der Bestattungen ausmachen. »Urnengräber sind pflegeleichter«, sagt Janine Wegener von der Friedhofsverwaltung. »Viele Angehörige möchten keine Grabpflege oder zum Teil auch keine Grabstätte mehr, an die sie gebunden sind.« Auf Sylt kommt noch eine weitere Besonderheit hinzu: Weil sich hier viele Auswärtige beerdigen lassen, gibt es niemanden, der sich um die Grabstätte des Verstorbenen kümmern könnte. Immerhin liegt der Anteil derer, die nicht auf Sylt gelebt, aber auf der Insel bestattet werden, bei rund 60 Prozent. »Viele Menschen vom Festland haben eine besondere Bindung zur Insel – und möchten hier heiraten oder eben auch ihre letzte Ruhe finden.«
In Westerland reagierte man auf den Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit und weniger Pflegeaufwand und legte 2019 den Staudengarten mit Urnengemeinschaftsgräbern an. Diese hätten, so Sprenger, für die Hinterbliebenen den Vorteil, dass sie – anders als bei einer anonymen Beisetzung oder der Seebestattung – einen Ort der Trauer haben, sich aber keine Gedanken zur Grabpflege machen müssen, da diese in den Kosten der Grabstätte eingeschlossen sei. »Es ist gewissermaßen unser ›Rundum-sorglos-Paket‹: Wir legen die Staudenbeete an und übernehmen für 20 Jahre die Grabpflege, kümmern uns das ganze Jahr über um das Grab.« Der Neue Friedhof in Westerland ist rund 3 Hektar groß. Ein Entwicklungsplan hilft dabei, die Vergabe der Gräber so zu steuern, dass größere, zusammenhängende Flächen entstehen, die neu gestaltet und genutzt werden können. »Wir mussten etwas ändern, umdenken, um zukunftsfähig zu werden«, erzählt der Friedhofsmeister rückblickend, der zuvor am Waldfriedhof München tätig war. Damit meint er nicht nur die Anlage der neuen, naturnahen Gemeinschaftsgrabstätten als wirtschaftlich notwendige Reaktion auf die sich verändernde Nachfrage, sondern eben auch die damit einhergehende Stärkung des Natur- und Artenschutzes. »Der Friedhof soll offener und lebendiger werden! Natürlich ist er in erster Linie ein Ort der Trauer und des Trostes, zugleich kann er aber auch als grüne Oase der Erholung und der Begegnung dienen. Ein Friedhof besteht nicht nur aus Gräbern.« Ein leidenschaftliches Plädoyer fürs Leben! Johannes Sprenger klingt entschlossen und entspannt zugleich, wenn er vom Lebensraum Friedhof erzählt und davon, diesen für Tote und Lebendige aufzuwerten. So, als wolle seine frische und unkonventionelle, aber nie ins Pietätlose abdriftende Art diesem Ort das Bedrückende und Negative nehmen, das oftmals an ihm haftet.

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»Leute kommen nicht nur, weil sie hier jemanden liegen haben, sondern auch, weil sie spazieren gehen, Ruhe suchen«, bestätigt seine Kollegin. Der Friedhof als Erholungs- und Rückzugsort – ist das nicht etwas ungewöhnlich? »Nö, gar nicht. Tod gehört zum Leben.« Und das ist für Janine Wegener eng verbunden mit der ökologischen Neuausrichtung des Friedhofs. Als Teil der ökofair zertifizierten Kirchengemeinde leistet der Neue Friedhof ohnehin einen wichtigen Beitrag zum Natur- und Umweltschutz auf der Insel. Mit den eigenen Bienenvölkern am Rande der östlichen Blumenwiese oder den Nistkästen für Vögel und Fledermäuse kommt nun auch noch der Aspekt Artenschutz hinzu. »Wir imkern sogar unseren eigenen Honig«, sagt Janine und erzählt von vielen netten Gesprächen und Begegnungen, die im Zuge der kleinen Honigproduktion entstanden sind. »Es ist doch schön, wenn wir diesen Ort der Besinnung zusätzlich mit Leben füllen können.« Das findet sich unter jedem Stein, auf jedem Baum und – wenn man es zulässt – auch auf jedem Grab. »Wir könnten das ökologische Potenzial des Friedhofs noch besser nutzen, wenn neben den öffentlichen Flächen auch die Gräber entsprechend gestaltet werden.« Die beiden denken darüber nach, biodiverse Mustergräber als Inspiration anzulegen, langfristig vielleicht sogar Führungen anzubieten. »Wir möchten niemandem Vorschriften zur Grabgestaltung machen. Aber wir möchten das Thema ins Bewusstsein bringen und zeigen, dass jeder was dazu beitragen kann – auf jedem noch so kleinem Grab«, sagt Janine Wegener. Denn tot sollen die Gräber auf gar keinen Fall sein. Im Gegenteil: Sie sollen Leben anziehen. So wie möglichst der ganze Friedhof durch seine Grünflächen, seinen alten Baumbestand und die Brutgehölzer Lebensraum für viele Vogelarten und Insekten geworden ist. »Vielleicht auch irgendwann von Pfauen oder einem kleinen Streichelzoo – aber von der Idee konnten wir bislang unseren Kirchengemeindevorstand noch nicht so ganz überzeugen«, schmunzelt die Tinnumerin, die seit acht Jahren für den Neuen Friedhof arbeitet.

Genug Rasen wäre zumindest vorhanden. Auf einer 1000 Quadratmeter großen Grünfläche wurden vor drei Jahren elf verschiedene Großbäume gepflanzt, darunter Zierkirsche, Herzbaum und Feuerahorn. »Das sind die Gemeinschaftsgrabflächen für unsere Baumbestattung«, sagt der Friedhofsmeister und bleibt unter dem Blätterdach einer Zierkirsche stehen. »Rund um den Stamm der Bäume herum können 16 Urnen beigesetzt werden. Eine schöne Bestattungsform«, befindet der Experte. »Zu jeder Jahreszeit blüht hier mindestens ein Baum.  Außerdem habe ich hier überall Krokusse eingebuddelt, die spätestens zum Frühjahr hin die Baumwiese in ein Farbenmeer verwandeln.« Er geht weiter über den kleinen Weg, der zwischen den Bäumen entlangführt, und betrachtet die eingeschraubten Namenstafeln auf den Granitstelen. »Eine schöne Bestattungsform«, wiederholt er etwas leiser, nicht aber ohne seinen Blick wieder nach vorn ins blühende Leben zu richten.

Text: Jutta Vielberg

Infos:
Der Neue Friedhof wurde 1918 gegründet und bietet rund 5000 Bestattungsplätze. Er liegt am östlichen Rand Westerlands, im Grünen zwischen der Dorfkirche St. Niels und dem Sylter Flughafen.

Neuer Friedhof
Friedhofsweg 5
25980 Sylt / OT Westerland
Telefon: 04651 / 24911
friedhof@kirche-westerland.de
www.kirche-westerland.de

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