© SMG/Holm Löffler

Natürlich Sylt

Krasse Kreaturen

Riesige Zangen oder tödliche Tentakel, schlangenartige Fangarme oder gar schleimabsondernde Saugfüße – solche Tiere leben nicht nur in fernen, tropischen Meeren, sondern auch vor Sylt im Wattemeer.

Strandkrabben
© SMG

Die Strömung lässt den Wald aus blassrotem Tang sanft wedeln. Darin lauert kaum erkennbar ein Wesen mit stacheligem Körper und unproportional langen, dünnen Beinen. Diese sehen aus wie aus einem Technik-Baukasten, der Körper dieses Wesens wie eine Spinne. Sie wirkt spukhaft, wie ein seltsames Gespenst. »Und so heißt sie ja auch. Das ist eine Gespensterkrabbe, die ich draußen zuletzt lebend an den Netzen von Saatmuschelanlagen vor Hörnum gesehen habe«, erklärt Dennis Schaper. Er leitet die Schutzstation Wattenmeer in Hörnum und dort, in der Ausstellung, steht das Aquarium, in dem die Gespensterkrabbe jetzt eine kleine Garnele zur Fütterung bekommt. Sie greift sich ihr Mahl mit langsamer Präzision und schwebt mit der Beute in den Wald aus Tang, zupft am Fleisch herum, steckt sich Stücke in den Mund. »Besucher sind herzlich eingeladen, bei der Aquarienfütterung dabei zu sein.« Um dann manch krasse Kreatur zu sehen. Den Schlangenseestern zum Beispiel. Der liegt versteckt hinter einem Stein im Dunklen, sein Körper ist kaum zu erkennen. Ein langes, borstiges Bein ragt hervor, wird immer länger und schlängelt sich um einen Stein, noch ein Bein tastet sich hervor und windet sich über den Meeresboden – die Szene erinnert an bizarre Aliens. Dies ist das Wesen mit den schleimabsondernden Saugfüßen, kaum zehn Zentimeter groß ist der Körper. »Die sieht man übrigens öfters am Strand, wenn gerade Sandaufspülungen stattgefunden haben. Denn sie werden draußen mit dem Sand hochgezogen«, berichtet Dennis.

Hummer im Aquarium
© Schutzstation Wattenmeer in Hörnum

Muscheln auslutschen, das tun auf Sylt nicht nur die Menschen: Das Drama, das sich in einem weiteren Aquarium abspielt, ist ein unendlich langsames, aber ein definitiv tödliches. Akteur 1: der Seestern, eigentlich eher ein sympathischer Vertreter des Meeresgetiers – er ist der Räuber. Akteur 2: die Miesmuschel, die auch dem Menschen schmeckt – sie ist das Opfer. Der Seestern sitzt auf einem Haufen Muscheln und es wirkt, als täte sich nichts. Dabei ist der Kampf in vollem Gange. »Der Seestern hat sich um die Muschel gelegt und mit seinen Armen festgesaugt. Er versucht nun die Muschel zu öffnen, um an das Fleisch zu gelangen. Es ist ein Kampf zwischen Ausdauer und Stärke«, erklärt Dennis. Solange die Muschel ihre Schalen fest zuhält, hat der Seestern keine Chance. Irgendwann aber, nach stundenlangem Ringkampf, gehen ihr Kraft und Atemluft aus. Dann zerrt der Seestern die Schale auseinander und spuckt zersetzende Magensäfte in die Muschel. »Ist das Fleisch vorverdaut, stülpt der Seestern seinen Magen in die Muschel – und schlürft sie aus«. So machen das die wirklich krassen Kreaturen. Und wer hätte gedacht, dass diese hübschen Blumen auch nicht ganz ohne sind: Sie sind üppig und bunt, sehen fantastisch aus. Wie Anemonen, wie tropische Schönheiten, es sind Seedahlien. Wunderschön mit weißen Armen und rosa-violetten Spitzen, mit sanften Bewegungen im Strom. Doch sie sind Räuber, auch sie lauern und locken kleine Fische ins Verderben. Es ist ein bildschöner, sonderbarer Unterwassergarten, einer zum Fangen und Verdauen. Und wehe dem, der sich darin verirrt. »Die Tentakel nesseln und schließen das Opfer ein, die Seedahlie frisst kleine Fische und Krebse. Und es sind übrigens Blumentiere.

Seedahlie in der Schutzstation Wattenmeer in Hörnum
© SMG/Oliver Abrahm

Tropische Farbenpracht vor Sylt, denn sie leben hier bei uns in der Nordsee. Sie siedeln auf festem Untergrund wie Steinen, Muschelbänken oder Wracks. Aber eine im Wattboden vergrabene Art, die Schlickanemone, finden wir auch bei unseren Wattwanderungen.« Wer krasse Kreaturen in freier Wildbahn sehen möchte, kann an einer Fahrt zu den Seehunden mit Seetierfang teilnehmen. Begleitet werden diese Ausflüge der MS Adler VI ab Hörnum von Mitarbeitern der Schutzstation Wattenmeer. Rund 15 Minuten nach der Abfahrt wird ein kleines Schleppnetz zu Wasser gelassen, über den Meeresgrund gezogen und wenig später von der Crew an Bord gehievt.   Eines vorweg: Die Tiere und Pflanzen kommen sofort in ein Wasserbecken und gehen nach der Besichtigung wieder über Bord zurück ins Meer. Was also lebt da unten, in acht, vielleicht zehn Metern Tiefe? Der heutige Fang ist erstaunlich, längst drängen sich die Fahrgäste am Heck vor dem Sortiertisch. Das Wasser fließt aus dem Netz, es riecht gut und frisch nach der See. Als das Netz geöffnet wird, ergießt sich ein wildes Sammelsurium auf den Metalltisch. Schnell wird der Fang sortiert und in Becken verteilt. Als erstes fällt ein gelblicher Brocken auf. Satt von Wasser tropft er noch lange nach – es ist ein Brotkrumenschwamm. »Schwämme gibt es nicht nur im Mittelmeer oder in tropischen Gewässern, sondern auch hier in der Nordsee. Der Brotkrumenschwamm fühlt sich in der Tat so an wie der aus der Badewanne; er ist jedoch brüchiger und kann zerbröseln – daher sein Name. Auf dem Sortiertisch wuseln die Tiere inzwischen auseinander. Was kann, versucht zu fliehen. Kleine Fische kommen als erstes in ein Becken. Hektisch rudert der Krebs, korrekt Strandkrabbe, mit den Beinen, als er am Panzer gehalten wird, man meint das Schnappen seiner Zangen zu hören. Dann kommt ein weiterer Kandidat zum Vorschein. Und dieses Ding sieht, bei näherer Betrachtung, tatsächlich wie ein Monster aus: Auch seine Beine zappeln, vor dem Mund hält er zwei weiße, schnappende Greifwerkzeuge, die schwarzen Knopfaugen scheinen böse zu blicken, der Panzer sieht aus wie mit Zacken bewehrt, das Maul ist geöffnet, der Rücken über und über mit Tang und Algen bedeckt. »Das packen sie sich tatsächlich zur Tarnung auf den Rücken. Sie tauschen ihre Tarnung sogar aus, wenn neue Algen um sie herum wachsen«, erklärt Dennis. Dieses Wesen sieht zum Fürchten aus – es ist die Seespinne, eine Krebsart. Auch ein Seeskorpion wurde gefangen genommen. Tatsächlich ist dies ein kleiner, in diesem Falle kaum daumengroßer, Fisch, der hauptsächlich aus Maul und Gebiss zu bestehen scheint. »Wir nennen ihn deshalb auch den Pitbull der Nordsee und Seeskorpion deshalb, weil er auf der Rückenflosse Stacheln hat – giftig ist er allerdings nicht.« Gebannt starren die Gäste auf dieses Kuriositätenkabinett aus dem Schattenreich des Sonderbaren.  Dabei ist dies, obwohl ein guter Fang, noch längst nicht alles, was an krassen Kreaturen in der Nordsee, im Nationalpark Wattenmeer, lebt. Da gibt es – unter vielen anderen – noch den Fisch, der nach Gurke riecht (Stint), und schwangere Männchen (Seepferdchen). Seenadeln und Tote-Mann-Hände. Und gewiss auch einen bunten Strauß Seenelken. Krass.

Seeigel in der Schutzstation Wattenmeer in Hörnum
© SMG/Oliver Abraham

Das Wattenmeer ist ein einzigartiger Ort. Sein Meeresboden fällt zwei Mal am Tag trocken, rund 10.000 Tier- und Pflanzenarten leben, trotzdem oder gerade deshalb, hier. Im Wechsel der Jahreszeiten kommen bis zu 12 Millionen Vögel hinzu, die hier rasten. Angrenzend liegen Lebensräume wie die Salzwiesen, die »Mangroven des Nordens«. Diese Welt ist eine Wildnis, ein Ort des Wundersamen und der Extreme gleichermaßen und einer des ständigen Wandels. Vom Menschen nur wenig beeinflusst, eine Landschaft ungeheuren Wertes. Und eben einzigartig auf der Welt. Vor zehn Jahren wurden große Teile des Wattenmeeres zum UNESCO-Weltnaturerbe erklärt, zu einem gemeinsamen Vermächtnis der Menschheit. Es reicht von Den Helder und Texel in den Niederlanden bis Esbjerg und Blåvand in Dänemark. Mit rund 11.500 Quadratkilometern ist es die größte zusammenhängende Wattfläche der Welt und die Heimat schöner, bisweilen auch sonderbarer Lebewesen. Die sogenannten »Big Five« sind die großen Stars – nach Schweinswal, Robbe und Co. hält jeder Ausschau, ihr Anblick sorgt für Entzücken. Auch die »Small Five« werden auf fast jeder Wattwanderung gezeigt. Und wer dabei nach oben schaut, kann die »Flying Five« beobachten. Und die anderen? Was ist mit den schaurig schönen Lebewesen im Wattenmeer? Kaum jemand kennt die komischen und bizarren Gestalten, die sich erst auf den zweiten Blick offenbaren. Dabei hat jeder einzelne Bewohner, ob geliebter Seehund oder Strudelwurm, seinen Wert und seinen Platz im Ökosystem. Seine Bedeutung. Die Vielfalt und ihr Zusammenspiel machen den unermesslichen Wert des Wattenmeeres aus. »Wir bezeichnen diese Tiere oft als niedere Lebensformen«, sagt Rainer Borcherding, Experte für Artenvielfalt bei der Schutzstation Wattenmeer. »Aber alle Arten um uns herum haben einen genauso langen Weg in der Evolution erfolgreich bewältigt wie wir. Viele Gene der Krebse und Insekten sind deutlich innovativer als unsere. Biochemisch und genetisch gesehen sind wir bestenfalls Mittelmaß und sollten Garnelen und Strandfliegen mit Respekt und Ehrfurcht begegnen.« »Nicht nur im Wattenmeer, sondern in allen Ökosystemen sind die kleinen und kleinsten Tiere die zahlreichsten und ökologisch meist bedeutsamsten. Allerdings sind sie oft unauffällig und teilweise schwer auffindbar, ihre Biologie ist oftmals wenig erforscht. Umso mehr lohnt es sich, mal hinzugucken«, sagt der Meeresbiologe Hendrik Brunckhorst vom Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer. 

Auf Sylt bieten die Naturschutzgemeinschaft Sylt, die Söl’ring Foriining, der Fremdenverkehrsverein Westerland, die Schutzstation Wattenmeer, das Erlebniszentrum Naturgewalten und viele individuelle Gästeführer geführte Touren ins Watt an. Eine Übersicht aller Wanderungen, von der Piratenwanderung für Kinder bis zur sinnlichen Wattwanderung, gibt es auf hier.

Text: Oliver Abraham

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