Natürlich Sylt
Heimat Sylt
Auf der Suche nach einer Heimat, die es so nicht mehr gibt, erzählt Susanne Matthiessen von einer Kindheit auf Sylt in den Siebzigern, die außergewöhnlich und zugleich in vielem typisch war für ihre Zeit.
Heimat Sylt
Auf der Suche nach einer Heimat, die es so nicht mehr gibt, erzählt Susanne Matthiessen von einer Kindheit auf Sylt in den Siebzigern, die außergewöhnlich und zugleich in vielem typisch war für ihre Zeit.
Exklusiver Auszug aus »Ozelot und Friesennerz«
Man versucht sich rauszuwinden. Nicht zurückzurufen. Sich totzustellen. Aber das funktioniert nicht. Es kommt immer wieder jemand aus meinem alten Leben zu mir durch. Wie ein Sog funktioniert diese gefährliche Sylter Unterströmung, gegen die man einfach nicht anschwimmen kann. Dabei bin ich schon vor Jahrzehnten weggezogen. Habe den Kontakt reduziert, mir eine halbwegs normale Existenz aufgebaut ganz woanders. Ich habe mir neue Freunde gesucht und einen ordentlichen Beruf gelernt. Meine Kindheit liegt sorgfältig verwahrt im Keller, der größte Teil sauber eingeklebt in Fotoalben. Der Rest in Kartons. Meinen norddeutschen Slang habe ich mir für seriöse Jobs bei Radio und Fernsehen abtrainiert und über Jahre habe ich versucht, mich für die Inseln im Mittelmeer zu erwärmen. Hat alles nicht geklappt. Ich bin und bleibe das Mitglied einer bizarren Schicksalsgemeinschaft. Und das habe ich inzwischen akzeptiert und meinen Widerstand endgültig aufgegeben. Ich bin Mitglied eines Vereins, aus dem man sich nicht rausmelden kann. Ich bin auf Sylt geboren – und deshalb automatisch mit der ganzen Insel verwandt. So eine Art Blutsbrüderschaft. Manchmal kommt es mir aber eher vor wie eine Sekte. Nur dass kein Außenstehender jemals erfährt, wer wirklich dazugehört. Ein vollständiges Register könnte ich zwar auch nicht anlegen, aber immer wenn ich die Sylter Rundschau aufschlage und die Traueranzeigen lese, weiß ich, ob wir wieder jemanden verloren haben. Das Verstörende ist, es kommt nichts mehr nach. Wir Sylter sterben aus.
Denn die Insel hat so ziemlich genau vor sechs Jahren, im Januar 2014, ihre Geburtsstation geschlossen. Niemand wird mehr »Westerland/Sylt« als Geburtsort im Pass stehen haben. Dabei ist das doch wie Feenstaub. Diese Adresse verwandelt jeden Normalbürger in ein Sondermodell. Besser und exklusiver als Monaco. Als echte Sylterin gehört man qua Geburt automatisch einem Adelsgeschlecht an. Man ist immer etwas Besonderes. Wo auch immer der Personalausweis zum Einsatz kommt, sofort ist man im Gespräch. Kein Autoaufkleber wird in Deutschland häufiger gekauft als der Schattenriss der Insel. Inzwischen schon als Swarovski-Modell mit funkelnden Strasssteinen erhältlich. Ein Sehnsuchtsort, ein Fluchtpunkt für so viele Menschen. Und was man im Überschwang der Gefühle gern mal vergisst: auch ein Heimatort. Für mich zum Beispiel.
Ich wurde hineingeboren in diese Insel und bin ein Teil von ihr geworden. Ich bin mit ihr über so viele Jahre so stark verwachsen, dass ich mich nie wirklich überwinden konnte, meinen ersten Wohnsitz woandershin zu verlegen. Wenn einer die Insel quält, quält er auch mich. Wer Anspruch erhebt auf diese Insel, und das werden immer mehr, erhebt auch Anspruch auf mich. Wer durch die geschützten Dünen trampelt, der trampelt durch mich. Ich nehme es persönlich, wenn ich in der Sylter Rundschau lese: »FKK: Das Ende der Freikörperkultur. Immer weniger Menschen trauen sich nackt an den Strand.« Denn nackt sein ist jetzt anstößig. Man wird von Badehosenträgern mit Handys gefilmt und als Mutant verhöhnt. Dabei heißt nackt sein doch frei sein. Schon gar in Wind, Sonne und Wellen. Wer die Nackten kränkt, kränkt auch mich. Wer die Nackten in weit entlegene Strandreservate verbannen will, der will auch uns Sylter loswerden. Ich frage mich schon lange, ob ich hier auf meiner eigenen Insel noch zu Hause bin. Aber wegziehen funktioniert nicht, das habe ich schon versucht. Ich kann mich eben nicht selbst verlassen.
Wie alle Sylter bin ich in der »Nordseeklinik« bei auflaufendem Wasser zur Welt gekommen. Direkt hinter der Düne. Auf Sylt kamen die Kinder immer mit der Flut. Setzten die Wehen ein, überprüfte die Hebamme erst einmal den Gezeitenkalender. Lief das Wasser ab, hatten alle noch jede Menge Zeit. Ob das jetzt genauso ist, wenn man auf dem Festland geboren wird, weiß ich gar nicht. Die Babys kommen ja jetzt aus Flensburg. Ob die auch mit der Flut rausgespült werden?
Haben Säuglinge, die an der vergleichsweise zivilisierten Ostsee zur Welt kommen, denselben Respekt vor der Unberechenbarkeit des Meeres wie wir? Spüren sie die Gefahr des lauernden Untergangs? Gehören sie noch zu unserer Schicksalsgemeinschaft? Kaum ein Wort könnte besser beschreiben, was uns, die Kinder dieser Insel, zusammenschweißt. Laut Wikipedia bedeutet Schicksalsgemeinschaft »eine Gruppe von Personen, die einem gemeinsamen Schicksal ausgesetzt ist, zum Beispiel einer risikobehafteten oder gefährlichen Situation. Beispiele hierfür sind Schiffbrüchige, Geiseln oder in einem Bergwerk eingeschlossene Personen«.
Ja. Wir sind Eingeschlossene. Wir sitzen auf einer kleinen Insel, auf 99 Quadratkilometern, und um uns herum ist nur Wasser. Wohin man sich auch wendet, überall ist Endlosigkeit. Wir sind »Geiseln«. Wir kommen einfach nicht los von diesem großen Sandhaufen im Meer. Und wir sind auch Schiffbrüchige. Irgendwann über Bord gegangen, ohne dass es jemand bemerkt hätte. Und doch wurde jeder von uns wieder angespült – mehr oder weniger heil. Aber die Insel, die wir kannten, gibt es nicht mehr. Die Biike ist das letzte Fest, bei dem man auf der Insel noch echte Sylter einfach so treffen kann, ohne sich verabreden zu müssen. Am großen Feuer, das traditionell am 21. Februar nach Einbruch der Dunkelheit entzündet wird, rückt man zusammen und fühlt sich ein bisschen so wie früher, auch wenn man seine Leute zwischen den vielen Feriengästen erst mal gar nicht findet und sie aufwendig suchen muss.
Wir nennen unsere Clique »Inselkinder«, das hat sich so eingebürgert. Wir alle sind Mitte der 1960er-Jahre auf die Welt gekommen, die sogenannten »geburten- starken Jahrgänge«. So viele Kinder gab es nie wieder. Nicht auf Sylt und nicht in ganz Deutschland. Wir sind einfach die meisten. Unsere Eltern waren damals ein bisschen hippiemäßig. Es waren die späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre. Es war die Zeit der sexuellen Revolution. Sylt boomte und wurde geradezu von Feriengästen überschwemmt. Unsere Eltern waren jung und die Geschäfte liefen glänzend. Während der Saison standen sie bis spät in die Nacht im Laden, in den Wintermonaten waren sie auf Reisen und zu Hause ließen sie es einfach laufen. Hat funktioniert. Es waren Sylts »goldene Jahre«. Wer da keinen Erfolg hatte, musste tot sein. Zweistellige Zuwachsraten im Fremdenverkehr. Und das in jedem Jahr! Es war wie ein Rausch. Dazu die ganzen Partys, die verrückten Leute, der deutsche Jetset, die Hochfinanz, die Hemmungslosigkeit. Wir Kinder waren immer dabei. Manchmal dichter, als gut für uns war. Und die meisten von uns haben nicht die besten Erinnerungen daran. Aber schlecht geht es uns jetzt ja auch nicht. Wir haben die Geschäfte unserer Eltern übernommen und sind nun die Verweser der guten alten Zeiten. Hotels, Gastronomie, Versicherung, Feinkost, Hausverwaltung, Apartmentvermietung, Souvenirhandel...
Es gibt so viel zu erzählen über diese kleine Insel, dass ein einziges Werk niemals ausreichend sein kann.
»Ozelot und Friesennerz« erschien am 15. Juni 2020 im Ullstein Verlag.
Susanne Matthiessen, Jahrgang 1963, ist gebürtige Sylterin. Nach dem Abitur am Gymnasium Sylt verließ sie die Insel, um Journalistin zu werden. Heute lebt sie gern in Berlin, aber nur am Meer richtig auf.
Frau Matthiessen, haben Sie manchmal Heimweh? Heimweh im Sinne von Sehnsucht nach Sylt oder eher im Sinne von Sorge um Sylt?
Die Sehnsucht nach Sylt und der Natur in ihrer ganzen Schönheit ist immer da. Selbst wenn ich auf der Insel bin. Heimweh habe ich natürlich auch. Nach der vermeintlich heilen Welt der Kindheit. Aber das haben wir auf Sylt nicht exklusiv, so geht es den meisten – egal von wo. Allerdings war das Aufwachsen auf dieser Insel für uns Babyboomer eben doch extrem anders als im Rest der Republik. Ein eher verschlafenes Nest wird im Sommer zum Nabel der Welt mit allen Konsequenzen, die ein solcher Ansturm für die Einheimischen hat. Dafür musste ein Preis bezahlt werden. Das ging auf Kosten von Ehen und Familien. Das beschreibe ich in meinem Buch. Auf einem ganz anderen Blatt steht die Sorge um die Zukunft der Insel. Das ist eher ein politisches Thema, das niemanden kalt lässt, dem Sylt am Herzen liegt.
In Ihrem Buch zeichnen Sie den gesellschaftlichen Wandel der Insel in den 1970er-Jahren nach, stellvertretend für eine Generation von Kindern und Jugendlichen, die mit dem explodierenden Fremdenverkehr aufgewachsen ist. Fluch oder Segen?
Als Kind denkt man nicht darüber nach: ist meine Kindheit eigentlich normal? Unsere Eltern sind im zerbombten Nachkriegsdeutschland aufgewachsen. Viele ohne Väter. Eine klassisch »behütete Kindheit« haben die auch nicht gehabt. Was die Sylter Familien in den 70er-Jahren vom Rest der Republik unterschieden hat, war vor allem die starke Stellung der Frauen. Während man überall sonst nach dem Krieg wieder in die alte Rollenverteilung zurückgefallen ist, blieben auf Sylt die Frauen der Motor der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Wir sind alle mit sehr starken und selbstbewussten Müttern und Großmüttern aufgewachsen. Das war schon ein Segen. Und bestimmt nicht normal für die damalige Zeit. Die Sylter Frauen sind großartige Vorbilder. Sylt war schon immer gelebte Gleichberechtigung. Lange vor der feministischen Bewegung.
Sylt boomte und alle um sie herum boomten mit. Macht sich jetzt so etwas wie Katerstimmung bei Ihnen bzw. Ihrer Generation breit?
Jede Insulaner-Generation drückt der Insel ihren Stempel auf. Unsere Eltern haben den Grundstein für diesen exklusiven Hotspot gelegt, haben den »Schönen und Reichen« ein perfektes Umfeld geschaffen. Meine Generation kann sich zugutehalten, aus Sylt eine »Jahrhundertmarke« gemacht zu haben. In Bezug auf Gastronomie und Beherbergung gibt es in Deutschland nichts Vergleichbares. Das ist eine Glanzleistung. Aber ich mache meiner Generation gleichzeitig den Vorwurf, tatenlos und ideenlos dem Ausverkauf, dem Wegzug von Sylter Familien, dem Verkehrschaos und dem Bahnchaos zugesehen zu haben. Das ist ja nicht über Nacht einfach über uns gekommen. Diese dramatische Entwicklung hat tatsächlich meine Generation zu verantworten, und dafür schäme ich mich auch ganz persönlich, weil auch ich mich nicht ausreichend engagiert habe. Aber es ist nicht zu spät. Warum nutzen wir nicht alle Einflussmöglichkeiten, die wir haben? Bei uns auf der Insel leben in ihren Zweithäusern und Zweitwohnungen die einflussreichsten Persönlichkeiten, die diese Nation im Angebot hat. Es wird Zeit, diese Leute ins Boot zu holen und der Insel und ihrer Bevölkerung wiederzugeben, was sie braucht: Schutz.
Sie schreiben: »Wir sind Geiseln. Wir kommen einfach nicht los von diesem großen Sandhaufen im Meer.« Andererseits scheint Sylt auch Ihr Anker zu sein: »Wenn ich Sylt verlasse, verlasse ich mich selbst.« Wie erklären Sie sich dieses ambivalente Verhältnis zu Ihrer Heimatinsel?
Manchmal habe ich das Gefühl, eine moderne Heimatvertriebene zu sein. Die Insel und die Nordsee sind zwar noch da, aber der Rest ist nur noch eine große Inszenierung. Es ist mein Zuhause. Aber ich vermisse das Gefühl des Vertrauten, des Zusammenhalts, des Dörflichen, wo auf Zuruf so viel möglich war. Wenn ganze Straßenzüge tot sind, weil niemand dort wohnt, verliert man das Heimatgefühl. Ich kenne viele Sylter, die jetzt auf dem Festland leben. Und ich weiß, dass sie das Leben auf der Insel vermissen und wehmütig sind. Es ist so großartig, ein Inselkind zu sein, am Meer geboren zu werden und dort aufzuwachsen. Man fühlt sich stark und fürs Leben gerüstet. Und es zieht einen immer wieder dorthin zurück. Wie Ebbe und Flut.
Interview: Jutta Vielberg
Der Trailer zum Buch
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