© Waldbaden

Natürlich Sylt

Freischwimmer

Sylts Badegäste schwören auf Nordseebrandung und Reizklima. Beim Waldbaden aber setzen sie auf die Heilkräfte der Bäume.

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Kraftvoll reckt sich die Eberesche in den wolkenlosen Abendhimmel. Der Blick wandert am kerzengeraden Stamm nach oben, hangelt sich Meter für Meter an den abstehenden kleinen Ästen empor, verharrt kurz an einem Harzrinnsal auf der graubraun geschuppten Borke und erklimmt schließlich die Baumkrone und sinkt langsam wieder zu Boden. Mit dieser Aufwärmübung stimmt Katja Hausmann ihre Gruppe auf das gemeinsame Bad in der Kampener Vogelkoje ein. Nein, sie wird gleich nicht in den Südwassersee der historischen Entenfanganlage springen und sie wird auch nicht in Farne, Moos oder Wurzelwerk eintauchen. Stattdessen führt sie erstmal in die Grundbegriffe des Waldbadens, die »drei großen S«, ein: »Es geht um das Spüren mit allen Sinnen, das Staunen, das viele verlernt haben und um absichtsloses Schlendern, das uns genug Raum und Zeit für beides gibt.« Die 18 Teilnehmenden, die sich an diesem Abend in der Vogelkoje zum »Magischen Abendbad« zusammengefunden haben, lauschen gespannt den einführenden Worten ihrer Waldbademeisterin. Es ist für alle der erste Sprung ins grüne Nass, dessen gesundheitsfördernde Wirkung Katja quasi präventiv herausstellt. »Der Wald tut uns gut«, beginnt sie und zählt einige Nutznießer im menschlichen Körper auf: Herz, Kreislauf, Blutdruck. Sie schaut in die Runde und fragt: »Wäre Fahrradfahren genauso effektiv?« Zögerliches Achselzucken bei den Badegästen, deutliche Ansage von der Kursleiterin: »Klares Nein! Der Wald hat was ganz Besonderes. Zauberwort Terpene. Das sind Botenstoffe, über die unsere Bäume kommunizieren und Feinde abwehren. Wir atmen diesen Duftcocktail ein und nehmen ihn über unsere Haut auf. Wer einen Tag im Wald verbringt, hat eine Woche lang mehr natürliche Killerzellen im Blut und damit ein gestärktes Immunsystem.

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Das haben Sie nicht beim Fahrradfahren.« Deshalb strampelt die Gruppe auch nicht über den Kojenpfad, sondern schlendert zum nächsten Treffpunkt. Doch was ist das richtige Schlendertempo? Darf man sich zwischendurch unterhalten? Muss man dabei flüstern? Intuitiv senken diejenigen, die vorbei an Königsfarn, Erlen und Pappeln schlendern und sich austauschen, ihre Stimmen. Jetzt bloß nicht das zarte Pflänzchen der Achtsamkeit mit lautem Reden zertreten. Katja, Wanderschuhe, Cape und freundliches Gesicht unter kurzen Haaren, klärt auf: »Natürlich hat Waldbaden viel mit Achtsamkeit zu tun. Das Tempo sagt man ist ein Kilometer pro Stunde. Aber grundsätzlich kann man nichts falsch machen beim Waldbaden. Ziel ist, dass man im Laufe des Badens immer ruhiger wird.« Sie selbst scheint auf jeden Fall schon jetzt in sich zu ruhen. Vor drei Jahren hat sie eine Ausbildung als Kursleiterin an der Deutschen Akademie für Waldbaden in Landau in der Pfalz absolviert. Als die Wuppertalerin dann  
im vergangenen Jahr Urlaub auf Sylt machte und die Kampener Vogelkoje besuchte, dachte sie: »Hier muss ich baden gehen«. Nachdem sie mehrfach allein ihre Bahnen durch das Naturschutzgebiet zog, leitet sie nun auch das gemeinschaftliche Eintauchen an. »Bei vielen Menschen ist der Bezug zur Natur verloren gegangen. Sie gehen dann einige Male mit, bis sie sich an den Wald gewöhnt haben und integrieren das Waldbaden idealerweise in ihren Alltag.« Was sie in ihren Kursen nicht anleitet, ist das Bäume umarmen. »Wer Lust dazu hat, darf jederzeit einen Baum umarmen. Ich mache es nie, zu klischeebeladen.« Tatsächlich wird das Waldbaden hierzulande gerne darauf reduziert und wahlweise als Spinnerei oder Marketing-Coup interpretiert. Ganz im Gegensatz zum japanischen Shinrin Yoku, das in Japan bereits seit den 1980er Jahren bekannt und als Therapieform anerkannt ist. Shinrin Yoku bedeutet wörtlich übersetzt »Eintauchen in die Atmosphäre des Waldes«.  
Waldbaden als Medizin – japanische Universitäten erforschen seit Jahrzehnten die Auswirkungen auf die menschliche Psyche und Physis und bieten inzwischen eine fachärztliche Spezialisierung in Waldmedizin an. Dass gegen Burnout oder Herzkeislauf-Erkrankungen eine Waldtherapie verordnet wird, ist in Japan nichts Ungewöhnliches. Zwischen einer Baumgruppe mit grünen Wurzelfüßen bedeckt ein dicker Moosteppich den Boden – wie geschaffen für den Austausch von Sinneseindrücken.

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»Was haben Sie gesehen? Was ist Ihnen aufgefallen? Was haben Sie bewusst wahrgenommen?« Eine Teilnehmerin meldet sich mit Handzeichen: »Die Weißwurz. Die Blüten des Salomonssiegels sind mir noch nie zuvor in dieser Pracht aufgefallen. Ortrud Gaus, Sylterin und offensichtlich Pflanzenkennerin, deutet auf ein krautiges Gewächs mit übergebogenem Stängel und weißen Blüten. Schräg gegenüber und eingerahmt zwischen zwei hochragenden Birken steht Rose Padel. Sie vermietet auf der Insel an Badegäste, seit einiger Zeit auch an Katja. Ihre pinkfarbene Jacke hebt sich von der dunklen Rinde der Birken gut ab: »Der hohe Farnanteil, das warme Rauschen der Baumwipfel und das viele Grün um uns herum«, zählt sie ihre Beobachtungen auf und löst damit einen kleinen Ausflug in die Farbenlehre an. »Die im Wald dominierenden Farben wirken erdend und beruhigend und gleichzeitig energetisierend und frisch«, nickt Katja und ermuntert dazu, weiterhin alle Sinne zu öffnen. Für die unsichtbaren Terpene (»auf Nasenhöhe sind sie am intensivsten, das hat die Natur gut eingerichtet«), für den Duft von Holunder und Pfeifengras, für das Gefühl feuchten Torfs – und für die Magie der Märchen. Denn Katja ist auch Märchen-Coach und garniert die Ausflüge in den Wald mit Erzählungen. »Märchen und Waldbaden harmonieren und ergänzen sich auf wunderbare Weise miteinander. Die Hälfte aller Grimms Märchen spielen im Wald.« In Hänsel und Gretel-Manier schickt sie die Teilnehmenden nun tiefer in den Sylter Märchenwald, verbunden mit der Aufgabe, sich ein im wahrsten Sinne des Wortes lauschiges Plätzchen zu suchen und hinzuhören, wie der Wald schlafen geht – auf einer Lautstärke-Skala von eins bis zehn. Die Badegäste verteilen sich auf einem Holzsteg, der quer durch den Urwald führt. Andächtig wie in einer Freiluft-Kathedrale suchen sie sich ihre Fixpunkte im grünen Dickicht und lauschen.

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Nach drei Minuten schwingt Katja zwei Zimbeln aneinander, das Zeichen dafür, sich um 90 Grad zu drehen und in einen neuen Fluchtpunkt des Waldes hineinzuhorchen. »360-Grad-Hören« nennt Katja diese Achtsamkeitsübung. Man konzertiert sich auf einen Ausschnitt des Waldes, dreht sich ein Stück um die eigene Achse und wiederholt das Ganze so lange, bis man den Ausgangspunkt wieder erreicht hat. Im sogenannten Fuchsgang geht es so langsam wie möglich wieder zurück zur Lichtung. »Anschleichen«, flüstert Katja und hebt zur Demonstration im Zeitlupentempo ihr rechtes Bein, zieht damit einen großen Bogen in der Luft, um es einige Zentimeter weiter wieder lautlos vorne aufzusetzen. Diese ruhigen Bewegungen erinnern an Übungen aus der chinesischen Meditationslehre Qi-Gong-Bewegungen, die sie oftmals in ihre Waldpraxis einfließen lässt. Ebenso wie die 360-Grad-Übung, die perspektivisch betrachtet das Zeug dazu hat, sich als praktischer Alltagshelfer zu bewähren. »Gehen Sie in den Wald, wenn Sie eine Lösung für ein Problem finden möchten. Belegen Sie die Ecken mit Lösungen und betrachten Sie sie aufmerksam. Es ist alles eine Frage der Perspektive – und das war auch das Ziel der letzten Übung«. Tom Döker nickt, über das bewusste Erleben der Perspektiven habe er den Wald neu kennen und wertschätzen gelernt. Überhaupt hätten insbesondere die Achtsamkeitsübungen seine Erwartung erfüllt, in Stille und Ruhe einzukehren. Der Kölner macht vier Tage Kurzurlaub auf Sylt und möchte nicht nur das »übliche Sightseeing, sondern auch ein Gefühl mitnehmen.« Zum Beispiel jenes, tief in der Erde verwurzelt zu sein und jedem Sturm trotzen zu können. Denn Katja leitet nun an, die Arme auszustrecken und diese wie die Äste eines Baumes hin und her zu schwingen – bei gleichzeitig festem Stand. Mittlerweile hat sich die Dunkelheit über den Märchenwald gelegt. Im Eulengang – der Körper ist aufgerichtet und der Blick ist nach vorn gerichtet – und begleitet vom Ruf des Kuckucks schickt Katja ihre Badegäste zurück auf den Holzweg. »Es ist Wünsche-Nacht«, sagt sie. »Das Tor zur Anderswelt öffnet sich und die Unterirdischen lassen sich sehen. Was soll sich erfüllen, was soll sich wandeln«? Einige setzen sich auf die Planken, andere machen ein paar Schritte vor ins Grün, alle haben eine Kerze in der Hand und konzentrieren sich auf ihren Wunsch. Vielleicht setzen sich die Killerzellen genau in diesem Moment gegen Stress und Anspannung zur Wehr – aber gegen das Übernatürliche haben sie keine Chance.

Lust auf einen Sprung ins Sylter Grün? In Kooperation mit den Sölring Museen bietet Katja Hausmann wieder Badetermine im Kojenwald zwischen Kampen und List an. Waldbader sind Ganzjahresbader: Die »Sylter Jahresgruppe« kommt erstmals am 6. Januar 2022 zusammen, gefolgt von den Terminen 21. März, 21. Juni und 21. September. Im Sommer gibt es außerdem Schnupperkurse und ein Abendbad zum Siebenschläfertag. Die Teilnehmerzahl ist begrenzt, Anmeldung ab sofort über die Sölring Museen, info@soelring-museen.de, 04651/32805. Für weitere Informationen gerne abtauchen unter www.maerchencoaching.de.

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