© Alexander Heil

Natürlich Sylt

Ausgabe Winter 2024

Gekommen um zu bleiben

Premieren sind eine aufregende Angelegenheit. Das Erscheinen der ersten „Natürlich Sylt“ im digitalen Format sorgte auch bei uns im Sylt Marketing Team für erhöhte Pulsfrequenz. Werden die Leser*innen, Sylt-Freund*innen und solche, die es werden wollen, nach 25 gedruckten Ausgaben die Vorteile des multimedialen Publizierens mit uns feiern? Oder werden sie den Qualitäten des Printmediums auf ewig nachtrauern? 

Wir sind mehr als zufrieden mit der Premieren-Resonanz. User*innen auf der ganzen Welt haben das Sylt Magazin für Fans fleißig geöffnet und studiert. Besonders gefreut haben wir uns über Rückmeldungen von den als kritisch bekannten Sylter Einheimischen. So bekamen wir zum Beispiel das Feedback, man fühle sich sehr wohl mit der neuen „Natürlich Sylt“. Man könne im digitalen Format vielschichtig, fundiert, begleitet von Filmen, Links und Audiodateien tief in das jeweilige Thema einsteigen. Man erführe Neues, selbst wenn man Sylt wie seine Westentasche kenne. Herrlich, genau das wollten wir erreichen!

„100 Jahre Naturschutz“ hieß das Thema der ersten digitalen Ausgabe. In No. 2 dreht sich alles um die Menschen (und auch Tiere!) für die Sylt mehr ist als ein Sehnsuchtsort. „Gekommen um zu bleiben“ heißt der Titel. Sylt als Zuhause für Menschen aus 115 verschiedenen Nationen: Wir stellen spannende Lebenswege und Motive vor, warum man auf unserem Sandknust Wurzeln schlagen kann.

© Georg Heimberger

Zuhause auf Sylt

Wenn die Insel mehr ist als ein Flirt

Vor 20 Jahren begeisterten Judith Holofernes und die Jungs der Deutsch-Pop-Rockband „Wir sind Helden“ mit dem Song „Gekommen, um zu bleiben“. Besonders schön: die Version mit Max Raabe und dem „Palastorchester“. Der Titel passt wunderbar zum Thema der zweiten Ausgabe der digitalen „Natürlich Sylt“. Denn hier geht es um Menschen, für die Sylt mehr ist als ein Sehnsuchtsort. Aus den unterschiedlichsten Gründen haben die Hauptdarsteller*innen dieser Story sich für Sylt als Lebensmittelpunkt entschieden. Manchmal war die Insel auch Schicksal…

19969

Einwohner*innen haben ihren

Hauptwohnsitz auf der Insel

6962

Sylter Zweitwohnsitze sind offiziell bei der

Inselverwaltung gemeldet

20,3

Prozent der Inselbevölkerung hat eine

andere erste Staatsbürgerschaft

115

verschiedene Nationalitäten leben

und arbeiten auf der Insel

Gisela Erdmann

Schuld allein trug die Liebe

© Nicole Mai für „Mensch, Kampen!“

Durch den „Fremdenverkehr“ kam vor 150 Jahren zu den überschaubaren Gründen, auf die karge Insel zu ziehen, etwa zwei Dutzend neue Motive dazu. Arbeit, gute Geschäfte, Inspiration, Gesundheit und natürlich die Liebe - unter den Argumenten für Sylt ganz weit vorne. Als eine Kraft, die offenbar Berge und Dünen verschieben kann. 

Bei der Seniorchefin des „Hotel Rungholt“ muss diese Kraft ziemlich groß gewesen sein. Denn so richtig toll fand die Hamburgerin den Sandknust zunächst nicht. „Es war ein verregneter Sommertag 1955, als ich die Insel kennenlernte. Ich logierte mit einer Freundin im ehemaligen Reitstall an der Wenningstedter Hauptstraße. Meine ersten Ferien überhaupt. Bei unserem Orientierungsspaziergang Richtung Braderup war ich durchaus nicht überwältigt von dem, was ich so sah. Ich fand die Landschaft eher trostlos. Wir trafen auf diesem Spaziergang zwei Reiter und kamen mit ihnen ins Gespräch“, erinnert Gisela Erdmann den Moment, dem sie zunächst keine größere Bedeutung beimaß. Dabei veränderte er ihr gesamtes Leben.

Dietrich Erdmann, Sproß einer weit verzweigten Sylter Hotelier-Familie und einer der beiden Reitersleute, war sofort entflammt für die junge Frau aus Hamburg. Er setzte alle Hebel und Kontakte in Bewegung und fand heraus, wo genau die beiden Spaziergängerinnen in Wenningstedt ihre Sommerfrische verbrachten. Da Datenschutz damals noch nicht so groß geschrieben wurde, trug sein Bemühen Früchte. Die beiden sahen sich wieder und Dietrich Erdmann warb nach allen Regeln der Kunst um Gisela. Irgendwann, viel später und nachdem er auch bei seinen  Schwiegereltern in Hamburg seine Aufwartung gemacht hatte, hielt er bei einem romantischen Treffen in der „Kupferkanne“ um ihre Hand an. 

Dietrich Erdmann hatte wie viele andere Sylter in der Nachkriegszeit in produktiveren Regionen Deutschlands Arbeit gefunden. Der „Fremdenverkehr“ an der Nordsee lief erst langsam wieder an. Dietrich Erdmann arbeitete darum in einem kleinindustriellen Betrieb im Sauerland und hatte dort eine vielversprechende Stellung. Nicht zuletzt, weil Gisela sich nicht so recht mit Sylt anfreunden konnte, zog das frische Glück ins Sauerland, bekamen dort 1960 und 1963 zwei Kinder und führte ein wunderbares Leben. Wieso die Familie dann 1971 nach Kampen umsiedelte und aus einem maroden Hotelbetriebe die erste Adresse Kampens machte? Und warum Gisela Erdmann schließlich doch mit Sylt ihren Frieden schloss und sich heute freuen kann, dass das „Rungholt“ auch in Zukunft ein Familienbetrieb bleibt - all das lässt sich im Buch „Menschen, Kampen“ mit 22 Lebensgeschichten aus dem Dorf zwischen den Meeren nachlesen.

  • Wenig mondän und sehr ländlich war Kampen bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein. Und auch dann war der Glamour nicht flächendeckend. Der große Hype kam in den Wirtschaftswunderjahren.

Vor der Ära der Sommergäste lebten in den Insel-Dörfern nur wenige Menschen. Kampen zählte zum Beispiel im 18. Jahrhundert 102 Menschen in zwei Dutzend Häusern. Neu-Bürger*innen kamen von den anderen Insel durch Heirat dazu. Signifikant größer wurde die Sylter Bevölkerung erst mit dem Tourismus und in Folge der militärischen Aufrüstung vor dem Ersten, vor allem aber vor dem Zweiten Weltkrieg.

Vor Ausbruch des Krieges hatte Kampen immerhin 410 Einwohner*innen. 39 Dorfbewohner starben im Krieg. In Kampen wie in allen anderen Inseldörfern stieg unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Bevölkerung sprunghaft an: Kampen nahm 1.927 Geflüchtete auf, von denen ein Drittel nach 1947 blieb. 
Heute liegt die Zahl der Dorfbewohner*innen seit ein paar Jahren ziemlich konstant bei 500 Menschen.

Merih Gilavci

„Zur Schule gehe ich lieber hier“

Merihs Augen strahlen, wenn er von seinen Lieblingsmenschen spricht. „In den Sylter Sommerferien bin ich immer in der Türkei - bei meiner Tante Nazli in Karşiyaka. Das ist in der Provinz Izmir. Sie ist Friseurin, eine sehr gute sogar“, versichert der Schüler der 5. Klasse im Schulzentrum Sylt mit Nachdruck.

Dass Mitschüler und Freunde internationale, bunte und manchmal auch dramatische Lebenswege haben, ist für ihn so wenig aufregend wie ein Sylter Wintersturm. Multikulturelles Leben ist auf Sylt Alltag: Rund 20 Prozent der Sylter*innen besitzen eine andere erste Staatsbürgerschaft als die Deutsche. 

Seine Geschichte geht so: Die Familie seines Vaters ist senegalesischer Abstammung und lebt in der Türkei. Mit seiner Oma und seiner liebsten Tante pflegt Merih einen engen Kontakt, mit seinem leiblichen Vater hingegen nicht. „Meine Eltern haben sich getrennt. Dann ist Mama, ich war noch ganz klein, zurück zu ihren Eltern nach Gaziantep. Mama hat zum Glück irgendwann meinen Papa kennengelernt - in einem Einkaufszentrum sind die beiden sich zum ersten Mal begegnet. Heute sind wir eine Familie mit drei Kindern. Meine kleinen Schwestern und ich“, erzählt Merih. Merihs Papa, Tolga Er, ist ebenfalls türkischer Abstammung und in Flensburg in einer XL-Familie aufgewachsen. Lange Jahre arbeitete er auf Sylt bei Jürgen Gosch in verantwortungsvoller Position. 

Für Tolga und seine Frau Hatice war es eine gravierende Entscheidung, sich für ein Leben als Familie auf Sylt zu entscheiden, dort, wo Tolga schon ein paar Wurzeln geschlagen hatte. Für Merihs Mama wurde der Start auf der Insel alles andere als leicht. Für Merih selbst ebenso wenig. „Meine kleinen Schwestern Zeynep und Hirah hatten es einfacher. Sie kannten nichts Anderes.“ 

Mit der Sprache kam dann allmählich das positive Lebensgefühl. Heute ist Hatice selbstständige Unternehmerin und betreibt auf Sylt erfolgreich eine Reinigungsfirma. „Ich lebe jetzt seit über fünf Jahren in Wenningstedt. Als die Osterwiese* fertig wurde, sind wir da eingezogen. Das ist cool, weil meine besten Freunde wohnen direkt nebenan. Ich liebe die Natur auf Sylt und die Sicherheit - man kann immer alleine rausgehen. Und die Schule ist auch okay. Meine Freunde in der Türkei erzählen nicht so viel Gutes von ihren Schulen. Aber das Leben dort, das mag ich sehr. Es ist viel fröhlicher“, lautet Merihs differenzierte Betrachtung. 

Seine Pläne für die Zukunft? Erstmal möchte er auf Sylt seine Leidenschaft fürs Tanzen intensiver leben. Es gibt ein neues Projekt, für das er brennt. Zufrieden ist er auch, dass es für ihn in der Schule besser läuft als noch zu Grundschulzeiten. „Ich weiß noch nicht, was ich mal werden möchte. Ist ja noch Zeit. Vielleicht Frisör - wie meine Tante. Ich kann mir gut vorstellen, in der Türkei zu leben. Mal sehen, vielleicht bleib ich ja auch hier“, meint Merih und stapft durch den Schnee.

*Die Osterwiese ist ein Wohnprojekt für Familien in Wenningstedt, dass die Gemeinde entwickelt und realisiert hat. Einzug war im Sommer 2018.

Halima Elkasmi

„Practice what you preach!“

Die Zeit, als Sylt den idealen Nähboden für Freigeister bot, siedeln Inselkenner wohl eher im letzten Jahrhundert an - Schwerpunkt 50er bis 90er Jahre. Gret Palucca, Valeska Gert, Maler Sprotte oder Wirte wie Klaus Bambus… Das Image der Insel speiste sich zu Teilen aus seinen „bunten Vögeln“. Heute ist die Zahl der Locals mit exzentrischen Lebensentwürfen eher klein. Bohème und Avantgarde sind dem Mainstream gewichen. Eine Handvoll Künstler und Kreative, kantige Gastgeber und Freigeister, denen das Leben am Meer, im freilassenden Insel-Mikrokosmos den Nährboden bietet, findet man aber glücklicherweise immer noch. Halima Elkasmi ist ein Paradebeispiel.

Gerade kommt sie aus dem Meer. Kein spektakuläres Wintergeplansche vor Publikum wie beim Weihnachtsbaden. Es handelt sich vielmehr um Halimas stillen Akt, das Leben zu feiern. Ein Ritual. Ein Anker. Der Moment, um sich mit sich selbst zu verbinden. „Reconnecting" ist das Schlagwort. „Ich setz mich einfach eine Weile ins eiskalte Wasser, atme und schaue, was mein Körper mir so erzählt. Herrlich ist das - man kommt bei sich selbst an“, versichert die Trainerin, Therapeutin und Lebenskünstlerin.

Das Werkzeug, um in Verbindung mit sich zu treten, ist für Halima der Schlüssel zu einem glücklichen Lebensentwurf. Und diese Methoden gibt sie in Workshops, Trainings, Vorträgen und Retreats weiter. Wenn sie nicht gerade in der Welt arbeitet, lernt oder reist, ist sie seit Jahren am liebsten Sylterin. Die Insel bietet ihr Verwurzelung, Überschaubarkeit, Zuhause, dörfliche Nähe, vor allem aber die Freiheit und Toleranz, die sie braucht, um zu blühen.

Aufgewachsen ist sie mit neun Geschwistern und einer glücklichen Kindheit dort, wo noch vor kurzem Kohle abgebaut wurde. Das war nämlich der Job ihres geliebten Papas. Die bestmögliche Version ihrer selbst zu werden und sich dafür von allen Schablonen zu befreien, das Fundament dafür hat sie von ihrer Familie bekommen. „Ich konnte als Kind nie still sitzen. Statt mir Medikamente zu geben, haben meine Eltern mich mit Sport gefordert. Ich trainierte Taekwondo und brachte es bis zur Jugendweltmeisterschaft“, berichtet das Temperamentsbündel.

Früh musste sie mit Schmerzen und Verletzungen umgehen. Beim Spiel mit Pfeil und Bogen verlor sie ein Auge. Im Sprunggelenk musste ihr Knorpel transplantiert werden. Sie merkte, dass sie ihre Haltung ändern, ganzheitlicher leben musste, um schmerzfrei und gesund zu sein. Sie wurde in Indien Yogalehrerin und erwarb viele weitere Qualifikationen, Anatomie und Neurologie begeisterten sie insbesondere.

Das moderne Bewegungstraining à la Halima hat nur am Rande mit vertrauten Konzepten zu tun. Mit ihr klingt es, den eigenen Körper auf allen Ebenen neu zu entdecken, vergessene Bewegungen zurückzuerobern. Die schöne Frau mit den marokkanischen Wurzeln hilft auch Sportler*innen mit Verletzung,  wieder voll in die Kraft zu kommen. „Einfach mal machen. Wenn meine Klienten bereit sind zu üben, kommen wir zum gewünschten Ziel“, weiß sie. „Practice what you preach“,  ist noch so ein Grundsatz, der Halima überzeugend macht.

Mit ihrer umtriebigen Veranlagung braucht sie die unterschiedlichsten Aktivitäten, um ausgelastet zu sein. Natur und Strand sind ideal zum Auspowern und um wieder in die Mitte zu finden. Dass Hyperaktivität eine Qualität und kein Makel ist, wenn man sie in die richtigen Bahnen lenkt, beweist sie täglich. „Nicht gegenan arbeiten, sondern damit umgehen“, ist ihr Credo. Daher überrascht es auch kein Stück, dass sie als Puzzleteil ihres bunten Portfolios manchmal - wie schon vor 15 Jahren - als Servicekraft im „Samoa-Seepferdchen“ aushilft.  „Ich liebe den Job. Er fordert mich und hat mir damals meine vielen Ausbildungen und Reisen finanziert. Jeder Abend hat eine eigene Dramaturgie. Es ist wie auf einer Bühne. Wenn Du voll fokussiert bist, wird die Vorstellung gut.“ 

Heinz Maurus

Vom Matrosen zum Vollblut-Politiker

Ob er wohl noch auf Sylt lebt? Ja, das tut er. In Tinnum. Mit seiner Frau Edeltraud, oft in Gesellschaft seiner Enkelkinder. Ohne seinen Zuhauseort in den letzten Jahrzehnten je in Frage gestellt zu haben. „Die Insel war immer gut zu mir. Ich verdanke ihr viel. Meine Frau und ich könnten uns gar nicht vorstellen, woanders zu leben“, versichert Heinz Maurus. 

Sylt und vor allem die Inselmenschen in ihrer Kantigkeit haben ihn vorbereitet, um als CDU-Landtagsabgeordneter, Staatssekretär und Chef der Staatskanzlei (um nur einige seiner Funktionen zu nennen) eine politische Karriere hinzulegen, die sich gewaschen hat. Auf der Insel konnte er sich in den 80er und 90er Jahren als Bürgermeister von Sylt-Ost* und als Amtsvorsteher warm laufen. Dabei entstand eine tiefe Verbindung, die man nicht aufgibt, wenn man ihren Wert kennt.

Viele Jahre pendelte Heinz Maurus in unerschütterlicher Weise zwischen Berlin, Brüssel und Tinnum hin und her. „Ich habe versucht, so oft es geht, an den Wochenenden nach Sylt zu kommen“, versichert er. Den Alltag im Familienleben mit drei Kindern überließ er mit seiner übervollen Agenda eher seiner Frau. „Ich war eben oft nicht da. Auch schon, als ich noch auf Sylt arbeitete. Einiges würde ich in der Nachbetrachtung vielleicht anders machen“, meint Heinz Maurus nachdenklich. 
 
Aktuell bemüht er sich redlich, mit kurz über 70, den Schwerpunkt auf das Reisen mit dem Wohnmobil und Segeltörns mit Freunden und Familie zu verlegen. Aber so ganz kann der leidenschaftliche Wirklichkeitsgestalter nicht aus seiner Haut. Als Präsident des „Marinebundes“ ist er der Mariner a.D. „back to the roots“. Maritime Belange stehen auch in seinem zweiten größeren Projekt im Fokus: Er nutzt Netzwerk und Verhandlungsgeschick für die Belange des „Vereins der Muschelzüchter“. Er ist Vorsitzender der Erzeugerorganisation, in der auch „Dittmeyer’s Austernompagnie“ und die Hörnumer Miesmuschelfischer vertreten werden. Dazu kommen natürlich noch diverse Mitgliedschaften und Ehrenämter, auch bei Sylter Traditionsvereinen - all das: Ehrensache… Aber auch ein Grund, warum die Agenda nach wie vor voll ist.

Darf man den Wahl-Sylter mit der respektablen Polit-Karriere nun eigentlich als Sohn der Insel bezeichnen? Streng genommen natürlich nicht. Aber er ist ein Vorzeigebeispiel dafür, was passiert, wenn jemand auf der Insel den richtigen Ton und seinen Nährboden trifft. Geboren und aufgewachsen ist Maurus in Kaufbeuren im Allgäu. Dort war es der Freund seines Papas, ein U-Boot-Fahrer, der ihm überzeugend versicherte: „Junge, wenn Du was erleben willst, dann geh zur Marine.“ So landete er in Glückstadt und im Januar 1972 als „Sani“ in List, damals Sitz der riesigen Marineversorgungsschule (MVS). „Ehrlich gesagt: Als ich mit dem Bus durch die Mondlandschaft Richtung Kaserne fuhr, dachte ich erst: ,Wo bist Du denn bloß gelandet?’“ Aber seine Haltung veränderte sich schnell. Bei Licht betrachtet gefiel ihm auch die Mondlandschaft, und er fühlte sich wohl mit seiner Entscheidung für eine Laufbahn bei der Marine. Er absolvierte die diversen Steps einer militärischen Karriere mit Bravour. 

Heinz Maurus gewann Freude an der Politik und die Politik an ihm - auch wegen seiner Fähigkeit, Visionen pragmatisch auf den Boden zu bekommen. Seine Geschichten über das Leben und Tun dieser Jahre auf Sylt könnten Bände füllen. Eine kleine Anekdote, die eher in die Abteilung „unterhaltsam“ als „politisch-faktisch“ gehört: „Der jetzt verstorbene Wolfgang Schäuble verbrachte seine Ferien immer auf Sylt. In kleiner Runde fragte er mal an, ob ich wüsste, wohin er wohl seine vertraulichen Faxe schicke lassen könnte. Ich verwies auf mein Bürgermeisterbüro in Keitum. Fortan tüteten wir dort immer die Faxe des Innenministers in geheime Umschläge. „Es gibt noch immer diese dörfliches Miteinander, aber eben auch die große Welt. Und das verbindet sich so schön“, bringt Maurus eine Qualität seiner Heimatinsel auf den Punkt.

Dass er beide Bühnen, die dörfliche wie die große, bespielen konnte, bewies er eindrucksvoll. Wenn er inzwischen wieder mehr Zeit auf Sylt verbringt, würde er sich nicht nochmal einmischen wollen in die Inselpolitik - Amerikas Präsident ist über 80? Was würde er Sylt raten? „Gar nichts, das steht mir nicht zu. Ach vielleicht nur das eine: Wir haben schon damals den insularen Geist beschworen. Der ist der Schlüssel zu allem. An einem Strang zu ziehen - ist das A und O.“

*Bevor die Sylter Ostdörfer, Rantum und Westerland 2009 zur Gemeinde Sylt fusionierten, bildeten Munkmarsch, Keitum, Archsum, Morsum und Tinnum die Gemeinde Sylt-Ost. Rantum und Westerland waren eigenständige Gemeinden - wie bis heute List, Wenningstedt-Braderup, Kampen und Hörnum.

Ambroise Gaglo

„Wenn ich irgendwie helfen kann…!“

Die Liste der Projekte, die Ambroise Gaglo in den letzten 29 Jahren auf Sylt und in der Welt kulturell und humanitär auf die Beine gestellt hat, ist meterlang. Um die Kreativität und Unermüdlichkeit des Sylters besser zu verstehen, bietet sein Schicksal ein Puzzleteil. Ambroise kam 1995 als Asylsuchender aus Togo nach Sylt. Er lebte zwei Jahre lang im Mini-Container-Dorf, das damals unmittelbar neben dem Golfplatz improvisierte Herberge für ihn und viele andere war, weil es keinen adäquaten Wohnraum gab. Dass geflüchtete Menschen verschiedener Herkunft aus dem selben Grund nun bald wieder in Containern, nur eben auf dem Flughafengelände, leben werden, lässt ihn natürlich nicht unberührt.

 „Aber lass uns über das sprechen, was man Gutes tun kann“, wird er sagen und resümiert damit, was ihn ausmacht. Als er nach Sylt kam, hatte er seinen Bruder hier, er konnte die Sprache, hatte Deutsch ziemlich perfekt gelernt und den festen Vorsatz, das Beste aus seinem Leben auf der Insel zu machen. „Sprache ist der Schlüssel. Das sage ich auch jedem, der in meine Beratung kommt. Sie öffnet Türen und Herzen. Damals wollte ich unbedingt zur Polizei. Ich habe noch einen Ordner mit meinen Bewerbungen - darunter auch die wenig inspirierte Absage, dass es für einen Asylbewerber völlig unmöglich sei, zur Polizei zu gehen“, erinnert er lachend, auch über die eigene Naivität von damals.

Ambroise wäre nicht er selbst, wenn ihn die damalige Absage wie auch alle Rückschläge, die noch folgen sollten, langfristig erschüttert hätten. Vor 24 Jahren besuchte er in Niebüll eine Berufsfachschule für Sozialpädagogik und arbeitet seit 2011 bei der Gemeinde Sylt in der offenen Ganztagsschule in Westerland. Ambroise bot aber auch von Anfang an musikalische Projekte, seine Trommelkurse, seine Multikultifeste an. Er engagiert sich für ein gesellschaftliches und kulturelles Zusammenleben und positioniert sich gegen Ausgrenzung und Rassismus. In alldem war er in drei Jahrzehnten beständig mit immer wieder neuen Ideen am Start. Nicht zuletzt, um seine afrikanischen Wurzeln zu ehren und um eine sinnvolle Verbindung zwischen seiner alten und seiner neuen Heimat herzustellen, entwickelte er das Konzept für den „Yes Award Sylt“. Das „YES“ steht dabei für „Yearly Education Support“: In Lomé, Togos Hauptstadt, wird durch das Projekt jeweils ein junger Mensch zwischen 16 und 20 Jahre künftig in Form eines Stipendiums in seinen Studienvorhaben gefördert. Sponsoren werden dringend gesucht. Gerne informiert Ambroise über seinen Award:

Er berichtet von einem Kultur-Fest der afrikanischen Community in der Niebüller Stadthalle. Geplant für den Sommer 2024. Sie sind noch im Gespräch mit der Stadt Niebüll. Die Zeit drängt. Denn jetzt hat er einen Termin mit einer afrikanischen Familie. Für eine Beratung in seinem Büro in der Stephanstraße in Westerland. Drei Sylter*innen bieten Beratungen für Menschen, die planen, auf der Insel zu leben und zu arbeiten. Es gibt auch eine polnischsprachige Sprechstunde und eben Ambroise mit englisch, französisch und zwei afrikanischen Sprachen. Etwa zwei bis drei Beratungen macht er dort wöchentlich im Schnitt. 

Die Wege, wie die Menschen zu ihm finden, sind bunt wie das Leben. Manchmal spricht er auch Menschen an, die er noch nicht kennt. „Ja, die 300 Menschen der afrikanischen Community kenne ich eigentlich alle. Ich liebe ja das Familiäre, Überschaubare an Sylt. Ich könnte nicht in Hamburg leben.“ Kurze Wege und sein Wissen darum, an wen man sich wendet, um effektiv zu helfen, sieht er als große Qualität seiner Sylter Lebenswirklichkeit. „Wir können hier viel erreichen - unabhängig von der Problemstellung. Wenn jemand unter Diskriminierung leidet, genauso, wie wenn es Fragen nach Sprachkursen, Schulen, Jobs, der Wohnungssituation gibt. Bei der Wohnungssuche kann ich natürlich nur Tipps geben. Da würde ich gerne mehr helfen können.“

>> Alle persönlichen Berater*innen <<

Wer keine Fragen hat, aber auf Sylt arbeiten möchte, kommt hier direkt zur Jobbörse:

Greg Baber

„I will never leave Sylt!“

Einen seiner überzeugendsten Botschafter hat Sylt in Greg Baber. Für „Natürlich Sylt“ hat der Naturbursche aus Seattle mit seiner Samtstimme und seinem unverkennbaren „accent“ sein Kapitel aus dem Buch „Mensch, Kampen!“ eingelesen und verrät, warum er überhaupt niemals woanders leben könnte….

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© Nicole Mai für „Mensch, Kampen!“

Nina Krainz

Sie war dann mal weg!

5.16 Uhr - Abfahrt Bahnhof Langenhorn. Ankunft zuhause: nie vor 16 Uhr. Unter drei Stunden für den Weg zur Arbeit von ihrer Haustür im idyllischen Büttjebüll zur Wenningstedter SyltKlinik und zurück? „Das wäre unrealistisch. Ich brauche eher länger. Denn es gibt ohne Übertreibung nicht viele Tage, an denen das mit der Bahn komplett reibungslos läuft“, weiß Nina Krainz, die mit ihrem 20-köpfigen Team dafür sorgt, dass sich die Familien während ihrer Reha in der SyltKlinik pudelwohl fühlen und mit gesundem Essen verwöhnt werden.

Allerdings fährt Nina jetzt schon seit einem Jahr gar nicht mehr zur Arbeit: Sie wurde im Januar 2023 auf dem Weg zum Bahnhof Langenhorn von einem Autofahrer übersehen und einfach umgefahren. Die Verletzungen im Bein heilen nur langsam. „Die Dankbarkeit noch am Leben zu sein, ist stärker als jedes andere Gefühl. Die Sicht auf das Leben hat sich verändert“, versichert sie. 

Wenn es demnächst wieder mit dem Pendeln losgeht, wird sie das mit Gleichmut angehen, so wie eh und je. „Wir wohnen jetzt seit 2007 auf dem Festland. Die Entscheidung, Sylt als Lebensmittelpunkt zu verlassen, habe ich nie bereut, obwohl ich die 15 Jahre Inselleben sehr genossen habe. Aber wenn ich hier jetzt abends in die Idylle von Büttjebüll eintauche, weiß ich immer warum“, beschreibt Nina. 

Was sie dagegen als große Zeitverschwendung empfindet? „Wenn die Bahn-App sagt, alles sei paletti und ich dann trotzdem am Bahnhof stehe und warte. Da könnte ich morgens lieber noch einen heißen Tee trinken und nachmittags länger arbeiten.“ Die Fahrt selbst nutzt sie für nette Gespräche mit Pendler-Freund*innen, für einen Powernap, vor allem aber für „Train-Office“: „Ich kann in den 50 Minuten wunderbar planen und organisieren.“

Ihre Arbeit in der SyltKlinik verhilft ihr seit 2,5 Jahrzehnten zu einer sinnerfüllten Lebensaufgabe. Eintauschen möchte sie diese Qualität nicht. „Ich bin gelernte Köchin und direkt nach der Ausbildung 1992 nach Sylt gekommen, erst in die ,Vogelkoje’, dann in die SyltKlinik. In meinem Beruf könnte ich mir keine bessere Position vorstellen, als die, die ich heute habe“, versichert sie mit Vorfreude, demnächst wieder loszulegen. 

Neben Familie, Beruf und Freunden gibt es für Nina noch einen anderen Lebensinhalt, der eigentlich der Auslöser war, warum sie vor 15 Jahren von Sylt wegzog. „Wir hatten damals fünf Hunde, vier Katzen, 30 bis 40 Schafe - auch für die artgerechte Haltung unserer Border-Collies - und zwei Pferde. Viele unserer Freizeitaktivitäten hatten mit den Tieren zu tun - Seminare und Workshops. Und wir sind auch mit den Tieren in den Urlaub gefahren. Sylt war einfach zu weit weg von allem und zu klein geworden für unseren Zoo“, meint sie lachend. 

Die Konsequenz: Sie machte sich mit ihrem Mann, dem gebürtigen Wenningstedter Jörg-Eric Zarth, auf die Suche nach einem Resthof auf dem Festland. Nach einer charmanten Zwischenstation lebt die Familie heute in der ehemaligen Schule in Büttjebüll - und Platzmangel gibt es da wirklich nicht zu beklagen. „Als mein Sohn noch kleiner war, waren an manchen Tagen alle seine Bezugspersonen zum Arbeiten auf Sylt. Für den Fall eines Sturmes, Streiks oder anderer Widrigkeiten hatten wir da immer ein gutes Back-Up an Menschen - man weiß ja nie“, erzählt Nina.

  • Text: Imke Wein

Zahlen, Daten, Fakten

Die offiziellen Meldedaten

Die Sylter Inselverwaltung vermeldete zum 21. Dezember 2023 genau 19.969 Menschen mit Hauptwohnsitz. Die „aktive“ Sylter Bevölkerung ist real wahrscheinlich etwas kleiner: Man kann davon ausgehen kann, dass um die zehn Prozent der Gemeldeten nicht ganzjährig auf Sylt lebt.

6.962 Personen meldeten ihren Zweitwohnsitz auf der Insel. Dazu kommen geschätzte 4.000 Pendler*innen zum Arbeiten über den Bahndamm. Mit rückläufiger Tendenz. Immer weniger Arbeitnehmer*innen wollen die Widrigkeiten der An- und Abreise in Kauf nehmen. Sylt verzeichnet derzeit etwa 1.000 offene Stellen. 100 Ausbildungsplätze blieben unbesetzt.

Internationales Sylt

Wunderbar multikulturell setzt sich die Inselbevölkerung zusammen: 115 verschiedene Nationalitäten leben und arbeiten gemeinsam auf der Insel. 20,3 Prozent der Bevölkerung hat eine andere Staatsbürgerschaft als die deutsche. 1.288 Sylter besitzen einen polnischen Pass. 315 Menschen aller Generationen stammen ursprünglich aus einem afrikanischen Land, davon sind wiederum 131 Menschen Ghanaer*innen. 

Zu den größeren Bevölkerungsgruppen gehören auch die Ukrainer*innen (298 Personen), gefolgt von Menschen aus Rumänien (279) und Kroatien (189). Mit je einer gemeldeten Person verzeichnet sind Wahl-Sylter*innen z.B. aus Peru, aus Island, Südafrika, Luxemburg oder Mozambique.

Lebensraum Sylt

Rückschlüsse auf Sylt als Lebensraum lässt auch Umfrage zu, die die „Sylt Marketing“ Ende 2020 an alle mündigen Sylter*innen verschickte. Die repräsentative Befragung war die erste ihrer Art. Alle Antworten auf die Frage, wie die Sylter eigentlich ticken, gibt es hier: 

  • Nur 40 Prozent der Bevölkerung ist hier aufgewachsen

  • Von den 49 Prozent Zugezogenen kamen 29 Prozent wegen des Jobs, 11 Prozent wegen der Liebe und 9 Prozent, um hier ihren Ruhestand zu verbringen.

  • Mit 55 Jahren liegt das Durchschnittsalter der Sylter Bevölkerung relativ hoch. Der Durchschnittsdeutsche ist über zehn Jahre jünger.

  • Etwas über 700 Kinder und Jugendlichen besuchen das Sylter Schulzentrum. 1.963, also nur 9,8 Prozent der Sylter*innen, sind unter 16 Jahren alt. Deutschlandweit gehören 17 Prozent zu dieser Altersgruppe.

© Alexander Heil

Liebeserklärung in Bildern

Im Interview mit Fotograf und Sylt-Liebhaber Alexander Heil

Inselliebe findet auf den unterschiedlichsten Wegen ihren Ausdruck: Zumeist im stillen Genuss, manchmal aber auch mit hingebungsvollen Posts auf Social Media, mit Sylt-Songs und Gedichten und notfalls noch immer mit dem Klassiker: der Insel-Silhouette auf dem Autoheck. 

Dauergast Alexander Heil hat seiner tiefen Verbindung zum Sandknust ein sehr ästhetisches Monument gesetzt. Eines, das die Seele berührt: Seit Jahren fotografiert der Familienvater unauffällig, als wäre es ein Bilder-Tagebuch seiner Ferien, die Menschen rund um die „Buhne 16“. Diese Fotos vor Traumkulisse spiegeln tiefe Verbindung in ausgesucht schöner Handschrift. Jetzt hat er eine Auswahl in einem XXL Coffee-Table-Book veröffentlicht. Eine Liebeserklärung, die schwer wiegt und weitgehend ohne Worte auskommt. Darum haben wir von „Natürlich Sylt“ nochmal nachgefragt, wie seine Inselbindung entstand.

  • Mittendrin statt nur dabei. Alexander Heil (rechts im Bild) auf dem Sonnendeck seiner Lieblingsinsel. Verbindende Buhne-Momente wie aus dem Bilderbuch, pardon, Coffee-Table-Book.

Sylt war also offenbar für Dich keine Liebe auf den ersten Blick. Ganz anders als das Klischee behauptet. Wie kam’s zum Sinneswandel? 

Alexander Heil: Mit meiner Freundin, heute meine Frau, war ich ungefähr zwei Jahre später auf einer dieser großen „Bacardi“-Partys am Strand. Damals sind wir für gute Partys häufiger mal gereist. Ich glaube, es war in Rantum: herrliches Wetter, magische Stimmung, dieses unfassbare Licht und barfuss im Sand tanzen. Da hatte es mich erwischt. Wir sind dann auf Empfehlung auch mal zu „Buhne 16“ gefahren. Da habe ich diesen Spirit gespürt, der so gar nicht nach Effekten hascht, ohne Spektakel auskommt, friesisch-herb, aber voller Seele ist.

Du sagst selbst, Du seist ein „Landei“. Du bist im „Oldenburger Münsterland“, mitten in Niedersachsen, nach „allen Regeln der glücklichen Kindheit“ groß geworden. Dort lebst Du heute noch - mit Deiner Frau und Deinen beiden Kindern. Mit der Familienkutsche bist Du früher mit Deinen Eltern über Nacht an die Adria gefahren. Sylt war lange nicht auf Deinem Radar. Wie kam’s zur ersten Insel-Begegnung?

Alexander Heil: Die ereignete sich erst, als ich schon erwachsen war - es war eine Zufallsbegegnung, soweit es Zufälle gibt. Als Grafiker habe ich damals viel für die Musikbranche gearbeitet. 1998 war das, glaube ich, als ich für eine CD-Produktion für den NDR mal kurz nach Sylt fahren sollte, um Fotos für das Cover zu schießen. Die Fotografie war damals noch eher Nebenschauplatz. Ich war dann zwei, drei Nächte in Westerland und bin rumgefahren. Ich fand Sylt, ehrlich gesagt, eher so mittel und Westerland richtig scheußlich und habe mich immer gefragt, was das mit dem Sylt-Hype eigentlich so auf sich hat.

Ich fand Sylt, ehrlich gesagt, eher so mittel und Westerland richtig scheußlich und habe mich immer gefragt, was das mit dem Sylt-Hype eigentlich so auf sich hat.

Du bist da auf dieses Phänomen gestoßen, das die Insel wahrscheinlich im Innersten ausmacht. Du hast diese unaufgeregte Gastlichkeit vor spektakulärer Umgebung genossen. Etwas, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Wie ging es dann für deine Frau und Dich weiter?

Alexander Heil: Wir sind immer wieder gekommen. Mal nur für ein langes Wochenende, manchmal auch wochenlang geblieben. Zu allen Jahreszeiten. Wir haben Freunde gefunden. Es ist, glaube ich, auch das Ritual, die Wiederholung, die Wiederkehr, die den Zauber ausmacht. Jetzt mit unseren schulpflichtigen Kindern hat sich das wieder etwas verändert. Wir müssen uns an die Schulferien halten. Im letzten Sommer hatten wir drei Wochen Schietwedder, da muss man Sylt dann schon sehr lieben, um nicht zu verzweifeln.

Das stimmt, aber große Liebe ist halt auch nicht immer nur eitel Sonnenschein… Und wie kam es zu Deinen Fotos und Deinen „Buhne“-Momenten?

Alexander Heil: Früher konnte ich am Strand stundenlang faul rumliegen. Aber sowas ändert sich dann im Laufe eines Lebens ja zum Glück. Vor Jahren habe ich aus Langeweile angefangen, das, was für mich das Leben an der „Buhne 16“ so besonders macht, dieses Beheimatungsgefühl, die Rituale, der Umgang zwischen den Generationen, mal einzufangen. 

  • Kurze Erklärung zwischendurch: Die „Buhne“-Chefs, Tim und Sven Behrens sind Cousins. Sie sind Urfriesen. Sie haben die „Buhne 16“ vor 24 Jahren von ihren Onkels bzw. Vätern übernommen, die diese Mutter aller Beachclubs am Kampener Strand, 1981 gründeten. 

Wie hast Du es geschafft, dass Du bei den kantigen Gesellen so weit vorgedrungen bist. Das sind ja schon andere gescheitert beim Versuch, ihre Herzen zu gewinnen?

Alexander Heil: Ja, sie meiden jede Art von Öffentlichkeit und haben eine akute Allergie gegen Kameralinsen. Ich glaube, ich habe mir das Vertrauen einfach über die Jahre erarbeitet. Sie mochten meine Bildsprache und haben gemerkt, dass ich den Spirit verstanden habe.  

Stimmt, wenn man bei Friesen einmal durch die Lederhaut durchgedrungen ist, gibt es eine zumeist lebenslange und unerschütterliche Verbindung. Da muss man schon richtig Mist bauen, dass sie einen verstoßen. Da sind die Ur-Sylter wie die Insel selbst. Derbe, aber treu. Durftest Du auch schonmal mit der „Gründerriege“, den Jungs wie die „jungen Leude“ sie nennen, mit auf Makrelen-Törn? Das käme in der Welt da draußen wohl dem ultimativen Ritterschlag gleich.

Alexander Heil: Im Makrelen-Metier durfte ich schon ganz schön nah ran - beim Ausnehmen der Fische zum Beispiel. Aber im Ernst: Mich beeindruckt, wie an der „Buhne“ miteinander umgegangen wird. Die ältere Generation ist ein wichtiger Teil des Ganzen, hilft im Betrieb mit, hat aber auch einen eigenen Space, einen privaten Bereich mit Terrasse. Ein Teil der „Jungs“ kommt auch im Winter täglich für eine Partie „Mau-Mau“ durch die Dünen an den Strand. Bestimmt ein herrlicher Moment der Geselligkeit am einsamen Strand, Karten zu spielen. Ich glaube, Sylt brennt sich halt nicht nur durch diese Wahnsinns-Natur in die Herzen, sondern auch durch seine unverbiegbaren Menschen und durch deren Rituale.

Und genau das zu zeigen, dieses Miteinander von Einheimischen und Menschen, die immer wieder kommen, zum Arbeiten oder zum Genießen, das gelingt mit Deinem XL-Fotobuch. Du zeigst, wie echte Verbindung zwischen Menschen an einem wunderbaren Ort geht.

Alexander Heil: Es würde mich freuen, wenn das zum Ausdruck kommt. Ich liebe ja wertige Printprodukte. Ich hatte Lust, eine Auswahl der Fotos der letzten Sommer in dieser schönen Form zusammenzutragen.

Wo gibt es Dein Buch?

Alexander Heil: In ausgewählten Buchhandlungen auf Sylt. Aber auch im Online-Shop der „Buhne 16“ und in der „Buhtique“ - dem Laden mit schönen Dingen direkt am Strand.

Dieses Buch ist natürlich eher ein persönliches Lieblingsprojekt als eine Brötchen-Erwerbsquelle. Womit verdienst Du Dein Geld?

Alexander Heil: Tatsächlich inzwischen vor allem mit der Fotografie. Ich arbeite hauptsächlich für die Musikbranche und den Profisport.

© Alexander Heil

WOW! Du bist mit Deiner Arbeit ja weitgehend ortsunabhängig. So sehr, wie Du und Deine Familie Sylt liebt: Denkt Ihr manchmal darüber nach, auf die Insel zu ziehen? Ihr habt viele Freunde, seid verwurzelt….
Alexander Heil: Das ist in der Tat immer wieder Thema bei uns. Aber es wäre natürlich auch ein Riesenschritt - mit der Schule und den Kindern. Vielleicht ist es manchmal auch richtig, wenn bestimmte Träume unerfüllt bleiben und man ein wenig mit der Sehnsucht lebt…

Wenn Menschen das Strandleben rund um die „Buhne 16“ im Sommer zu quirlig ist. Was ist Dein Tipp?
Alexander Heil: Nur ein paar hundert Meter weiter nördlich und man ist auch im Sommer so gut wie alleine am Strand. Oder man geht etwas südlich an den Mittelstrand: Da ist ein wundervoller FKK-Strand mit sehr schönem Ambiente und einem Kiosk, den auch die Jungs von der „Buhne“ machen. Oder man findet auf 40 Kilometern Länge irgendwo anders seinen Lieblingsspot…

  • Interview: Imke Wein

An allem Schuld

Kolumne von Imke Wein

© Imke Wein
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Beim Interview mit Alexander Heil fiel mir wie Schuppen aus den Haaren, dass einer der Gründerväter der „Buhne 16“ auch in meinem Fall eine „Teilschuld“ trägt, dass ich in meinem 56 Jahren Leben bislang noch keinen Sommer nicht auf Sylt verbracht habe. 

Und das kam so: Ganz am Anfang hatte ich keine Wahl. Meine Eltern waren schon mit ihren Familien unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg mit Kohlköpfen im Koffer - als Verpflegung und Tauschobjekt - nach Kampen in die Ferien gefahren und wollten später auch mit ihren vier Kindern an Bord nirgendwo anders hin. Rantum Süd, Haus „Steinum“ direkt am Watt. Vier Wochen Sommerfrische. Jedes Jahr. Morgens: Türen auf, Kinder raus an den Strand, abends wieder rein mit der „Bagage“. Ein Traum. Speziell mir, dem jüngsten der vier Kinder, grub sich das Leben im Rhythmus der Inselnatur so ins Herz, dass ich im Winter manchmal vor Inselweh nicht schlafen konnte. Eines Sommers, ich war sieben und alleine morgens im Nachthemd am Watt unterwegs, habe ich entschieden:

Wenn ich groß bin, lebe ich auf Sylt.
© Imke Wein

Das wäre vielleicht ein Kindertraum geblieben, wäre da nicht Faktor Mensch noch mit ins Spiel gekommen: Am Rantumer Strand war damals, Ende der 70er Jahre, Konrad Behrens Rettungsschwimmer. Kurz bevor er mit seinen Brüdern die „Buhne 16“ gründen sollte. Für mich als kleines Mädchen gab es nichts Großartigeres, als wenn dieser kantige, bärbeißige, wortkarge Typ mit dem einen abgesägten Finger, meine Nähe tolerierte und mir erlaubte neben ihm auf der Schwimmerkarre Platz zu nehmen. Weitgehend schweigend. Das Beste war, ihm dabei zu zusehen, wie er mit drei Bissen ein „Dolomiti“-Eis verschlang, ohne eine Regung. In meiner ordentlichen, bildungsbürgerlichen Welt verkörperte dieser Mann und sein Lebensentwurf, am schönsten Strand der Welt Rettungsschwimmer zu sein, die ultimative Freiheit. Er war der Held meiner Kindheit, ohne sich dafür im Geringsten anzustrengen.

© Imke Wein

Nach dem Abi wurden meine Zwillingsbrüder Rettungsschwimmer, ich Strandgymnastin in Rantum. Bei den beiden blieb es beim Semesterferien-Job, ich schlug Wurzeln. Plötzlich war ich umgeben von lauter Menschen wie Konrad Behrens. Sylter und solche, die den Local-Lifestyle adaptierten. Menschen, die auf Konventionen pfiffen, im Winter um die Welt reisten, frei im Geist, nordisch-kühl auf den ersten Blick, weit im Horizont und mit großer Herzensbildung. Aus den Strandgymnastik-Sommern haben sich Freundschaften entwickelt, die bis heute auch durch alle Untiefen tragen. Und obwohl mein Leben sich als bunte Achterbahnfahrt entpuppen sollte, in der nicht immer Sylt der Mittelpunkt war, habe ich das gemacht, was ich mir als kleines Mädchen am Watt vorgenommen hatte: Sylt wurde mein Zuhause. Wegen der Freiheit, ich selbst sein zu dürfen. Wegen der Schönheit. Wegen der Menschen. Trotz und auch gerade wegen aller Macken.

© Holm Löffler

Tierisch 
schön hier!

Invasive Arten und ihre Entwicklung

„Gekommen, um zu bleiben“: Der Winter-Titel der digitalen „Natürlich Sylt“  liefert nicht nur beste Geschichten über menschliche Lebenswege: In diesem Part unseres Dossiers geht es um Pflanzen- und Tierarten, die von weit her kommen und schließlich auf Sylt Bedingungen vorfinden, die sie bleiben lassen. Wir nutzen die Gelegenheit, um unseren Leser*innen dazu auch die Menschen vorzustellen, die sich mit den sogenannten „invasiven Arten“ besonders gut auskennen.

  • Diane Seidel & die Neulinge in der Watt-WG

  • Wiebke Bleicken, die Sylter Jäger & der Marderhund

  • Christoffer Bohlig & die Pazifische Felsenauster

  • Neophythen = gebietsfremde Pflanzenarten = Neobiota

  • Neozoen = gebietsfremde Tierarten = Neobiota

In Deutschland sind aktuell 1.015 Neobiota registriert (449 Tier-, 469 Pflanzen- und 97 Pilzarten). Stirbt eine Tier- oder Pflanzenart aus, ist in 60 Prozent der Fälle übrigens eine Neobiot, also eine gebietsfremde Art, dafür verantwortlich. Die Neulinge in der Natur führen also nicht immer und ausschließlich zu mehr Vielfalt. Oft erweisen sie sich an ihrem neuen Standort als besonders vital und gut angepasst an die Umstände, vermehren sich überproportional und verdrängen andere. Von Wissenschaft und Naturschutz werden die Entwicklungen intensiv beobachtet und untersucht, um herauszufinden, welche Konsequenzen das Auftauchen der Neobiota für das Biotop hat. Reglementiert und eingegriffen wird dann, wenn die Ausweitung des Bestandes einer Art für den Lebensraum bedrohlich ist.

© Holm Löffler

Die Neuen

in der Watt-WG

Stiefel an, Forke und Eimer mit. Los geht’s. Auf dem Weg zum „hauseigenen“ Strand des Erlebniszentrum Naturgewalten treffen wir an diesem wild-grauen vorletzten Dezembertag Diane Seidel. Das natürliche Problem an diesem Morgen: „Der Wasserstand ist etwa 1,5 Meter über normal. Wir können trotz Ebbe gar nicht weit raus“, erklärt Diane. 

Die Wahl-Sylterin und Biologin möchte uns eine Watt-Einwanderin persönlich vorstellen: Die Japanische Felsenkrabbe, erstmals 2006 von einem Zivi (so hießen die Freiwilligen-Dienstler damals noch, heute FÖJ = Freiwilliges Ökologisches Jahr) im Wattenmeer gesichtet. Sie ist von Japan erst an die Ostküste der USA emigriert, fand dort Superbedingungen vor und reiste dann wahrscheinlich als blinder Passagier an einem Schiff in die Nordsee.

© Holm Löffler

Auf der Suche nach der Felsenkrabbe, die sich, wie ihr Name schon vermuten lässt, unter Steinen zuhause fühlt, finden wir zwischen den Steinen Pantoffelschnecken, Einwanderin von 1934. „Sie durchläuft in ihrem Lebenszyklus eine männliche Phase, eine neutrale und eine weibliche - ist das nicht phantastisch?“, fragt Diane mit einem Schneckenhaus in der Hand. Ihre Faszination für diese so besonderen Wattwesen springt unmittelbar über.

Diane berichtet auch von den Neobiota Brackwasser-Seepocke, die sich auf Miesmuscheln ansiedelt  und der Meerwalnuss, eine neue, bis zu 10 cm große Quallenart, die aus dem westlichen Atlantik stammt. Auf großen Monitoren im Erlebniszentrum kann man ihr beim Jagen und beim Leuchten zuschauen. 

„Ach ja, wir haben auch einige Exportschlager zu verzeichnen: Unsere hier heimische Strandkrabbe fühlt sich auch in Nordamerika, Australien und Südafrika wohl.“

Diane Seidel über die Verbreitung der heimischen Strandkrabbe:

Sie ist ein ,Exportschlager’ und hat Ökosysteme an verschiedenen Küsten weltweit verändert.
© Holm Löffler

Einflüsse auf das Ökosystem

Ein schnelles Urteil darüber, ob die Neuen nun gut oder schlecht sind für das Wattenmeer, gibt es von einer wissenschaftlich denkenden Person nicht. „Man muss die verschiedenen Arten natürlich über lange Zeiträume beobachten, um wirkliche Rückschlüsse auf die Wechselwirkungen und die Entwicklung der Population sagen zu können. Es ist alles sehr dynamisch - wie bei der Entwicklung der menschlichen Bevölkerung auch. Wann ist jemand heimisch, wann zugezogen? Was hat das für Konsequenzen für den Lebensraum? Und wie lässt sich Entwicklung lenken. Das gilt es vielschichtig zu betrachten“, meint sie. Über die Pazifische Auster und deren Einflüsse auf die Watt-WG kann Diane natürlich auch viel berichten, immer auf dem neusten Forschungsstand dank der Nähe zum AWI. „Wenn die Leser das Thema Austern interessiert, können sie dazu ja auch mal eine Exkursion machen. Wir bieten regelmäßig Austernwanderungen in das Zuchtgebiet an.“

Unser Sammeleimer ist inzwischen von Wasser geflutet. Zeit, den Rückweg anzutreten. Ohne Japanische Strandkrabbe, aber mit frischem Wissen über die Neuen in der Watt-WG. 

Naturgewalten

erleben und verstehen

Wer etwas über die 100 neuen Spezies der letzten 100 Jahre in Watt und Nordsee wissen möchte, kann das im Lister Erlebniszentrum Naturgewalten nach allen Regeln moderner Museumspädagogik. In einem multimedialen Schaukasten wird auf der elektronische Weltkarte die Wanderung der Australischen Seepocke, der Pantoffelschnecke, der Pazifischen Auster, der Schwertmuschel oder auch der Felsenkrabbe rund um den Globus anschaulich illustriert. Zusätzlich erklären Präparate und Tafeln das Phänomen der Neuansiedlungen in der Tier- und Pflanzenwelt. 

Möglichkeit 2, um noch mehr Erkenntnis zum Thema zu erlangen: Mit den Expert*innen vom Erlebniszentrum auf Exkursion gehen, um so ein ganzheitliches Verständnis für das dynamische Leben im Weltnaturerbe zu entwickeln. Das Lister Erlebniszentrum bietet übrigens 15 unterschiedliche Formate zur Naturerkundung - darunter Bootstouren mit den „Adler-Schiffen" und exklusive Touren an den Fuß der Wanderdüne.

2009

ging das Erlebniszentrum nach jahrelanger Planung aller Naturschutzverbände an den Start

30

Mitarbeiter*innen, darunter etliche Freiwilligen-Dienstler, betreuen Ausstellung, das Wattlabor und die Exkursionen

600

Schulklassen besuchten das Zentrum 2023

1400

Besucher*innen zählte das Erlebniszentrum an seinem Rekordtag in der Ausstellung

360

Grad hat die seit 2022 neue Kino-Attraktion im Erlebniszentrum: der „Sylt-Dome“

© Holm Löffler

Diane Seidel

Frau der ersten Stunde

Unter der Federführung ihres Kollegen Matthias Strasser und zusammen mit den Sylter Naturschutzorganisationen arbeitete Diane Seidel mit am Konzept für ein maritimes Umwelt- und Erlebniszentrums auf Sylt. Unsexy Projektname damals: MUEZ. Sie kennt im Erlebniszentrum jede Ecke wie ihre Westentasche. Seit 15 Jahren ist sie hier für die Ausstellung zuständig. Exkursionen zu leiten, steht aber nach wie vor mit auf ihrer Agenda.

Für Diane ist Sylt Zuhause geworden. Wegen der Menschen, vor allem aber wegen der Natur. Sie wohnt mit ihrem Mann am nördlichen Lister Ortsausgang. Schnell ist sie am Königshafen - raus aus der Umtriebigkeit ihres Dorfes. „Ich mag an Sylt seine Vielseitigkeit - vor allem landschaftlich. Bei bestimmten Lichtstimmungen, wenn ich so im Watt unterwegs bin, kann ich die Schönheit kaum fassen“, sagt sie. 

Nach der romantischen Betrachtung ist es dann aber ein wenig so, als habe die friesische Mentalität doch schon ordentlich auf sie abgefärbt: Was ist denn dein Natur-Geheimtipp? „Verrate ich doch nicht, dann ist er ja nicht mehr geheim...“

Von Nilgans und Marderhund

Sylt ist seit 1362 eine Insel. Auf ihren heute knapp 100 Quadratkilometern Fläche fühlen sich viele Tierarten wohl, die man als Niederwild (=alles, was der niedere Adel jagen durfte) auch auf dem Festland findet: Fasane, Enten, Tauben, Gänse, Füchse, Marder, Dachse, Hasen, Kaninchen, Rehwild. Mit den Umwelteinflüssen verändern sich deren Populationen beständig. Die Sylter Jäger sehen es mit als ihre Aufgabe die Entwicklungen in den Kulturlandschaften zu beobachten und für Gleichgewicht zu sorgen. Gerade, wenn natürliche Feinde fehlen.

Eine der neuen Arten, ein Neozoen auf der Insel, ist die Nilgans. Sie wurde irgendwann als Ziergeflügel aus Afrika nach England eingeführt und fühlt sich seit etlichen Jahren auch auf Sylt pudelwohl. Die neuen Tierarten haben oftmals als Gemeinsamkeit, dass sie höchst anpassungsfähig sind.

©  Kirsten Rüther-Bendrin
  • Ein Nilgans-Pärchen fotografiert von Kirsten Rüther-Bendrin. Die Vogelfotografin teilt ihre zahlreichen Beobachtungen auf der Insel auf www.vogelfotografie-sylt.de.

So ist es auch mit dem Marderhund (oder: Enok, Obstfuchs, Tanuki, Waschbärhund). Eine Wildhundart, die ursprünglich aus Russland (wurde dort auch als Pelztier gezüchtet) und Asien kommt, in den 30er Jahres des letzten Jahrhunderts erstmals in Schleswig-Holstein erlegt wurde und sich seit den 90er Jahren massiv im Norden Deutschlands ausbreitet. Man kennt den Marderhund in geringerer Zahl auch überall anders in Europa.

Wiebke Bleicken, Jägerin und Vorsitzendes des Vereins „Eidum Vogelkoje“ über den Marderhund:

© Imke Wein

Es wird vermutet, dass der bis zu neun Kilo schwere, 70 bis 90 Zentimeter lange und wadenhohe Allesfresser, vor zehn Jahren erstmals über den Bahndamm spazierte und hier vor allem in der Heide, am schilfigen Wattufer, in Wiesen und Wäldern prächtige Lebensbedingungen vorfand. Gerne ernährt er sich von Vogel-Eiern und den Vögeln selbst. Fuchs und Marderhund werden u.a. auch für den Rückgang bestimmter Bodenbrüter, wie den Austernfischer, mit verantwortlich gemacht. Zudem vermuten die Jäger, dass der Marderhund auf der Insel eine große Konkurrenz für den Fuchs ist und dessen Population bereits reduziert hat. Der „Enok“ jagt als exzellenter Schwimmer auch Fische sowie an Land kleinere Säugetiere. Aber er kommt auch vegetarisch ganz gut über die Runden oder frisst Aas, wenn das Angebot nichts Anderes hergibt. Er ist meist nachts auf der Pirsch und gilt als sehr „heimlich“. Was im Jägerlatein soviel heißt wie: Er weiß sich brillant zu verstecken und ist schwer zu jagen.

„Im Zweifelsfalls tritt man eher auf ihn drauf, als dass er wegläuft“, weiß Wiebke Bleicken zu berichten. Als Überlebenskünstler kommt er gut mit dem Sylter Klima klar, nutzt auch gerne Fuchsbauten als Unterschlupf und legt Winterruhe ein, wenn es besonders kalt wird. Er gilt als monogam. Die Weibchen bekommen bis zu acht Jungtiere im Jahr. Eine enorme Reproduktionszahl. Der Marderhund liebt die Sylter Bedingungen. Der erste wurde auf Sylt 2015 erlegt. 2021/22 waren es 40 Tiere. In Schleswig-Holstein wurden zeitgleich 10.310 Tiere erlegt. „Die Statistik liefert Kennzahlen und lässt Rückschlüsse über die Entwicklung der Population zu. Die absolute Anzahl der Tiere kennen wir allerdings nicht.“

Im Einklang mit dem Naturschutz dafür zu sorgen, dass auf Sylt die Artenvielfalt erhalten bleibt, sehe ich als wichtige Aufgabe für uns Jäger an.
Wiebke Bleiken
© Imke Wein


Die Eidum Vogelkoje

2023 führte Wiebke ehrenamtlich 32 Gruppen durch die ehemalige Entenfanganlage, machte die Besucher*innen im Ausstellungsraum am Teich mit Wirbel-Tierarten vertraut, die alle auf Sylt heimisch sind. Zu den ausgestellten Tier-Präparaten vermittelt Wiebke frische Kenntnis über Vorkommen und Zusammenhänge in der Tierwelt. Wie der „ausgestopfte" weiße Fuchs in die Ausstellung kam, welche Aufgaben ein Seehundjäger hat oder wie in List mal ein riesengroßer Hirsch tot aufgefunden wurde, der offenbar aus Dänemark nach Sylt rübergeschwommen war - all das weiß Wiebke Bleicken und gibt ihr Wissen gerne weiter. Immer schön abgestimmt auf das jeweilige Alter der Kojenbesucher*innen.

  • Wer diesen Lernort „Natur“ kennenlernen und mit seinem Verein, seiner Reisegruppe oder seiner Klasse eine Führung in der „Eidum Vogelkoje" machen möchte, schreibt einfach eine Mail: eidumvogelkoje@t-online.de.

Es ist toll zu sehen, wie sich Menschen aller Generationen für unsere heimische Tierwelt an Land begeistern
Wiebke über die Früchte ihres Ehrenamtes

Bis vor gut 100 Jahren sorgten vor allem Wildenten für die Versorgung der Einheimischen mit Fleisch. Die Sylter Fanganlagen waren für die Betreiber lange ein einträgliches Geschäft. In der Kampener Vogelkoje, die von der Sölring Foriining als Natur-Museum betrieben wird, lässt sich an diversen Stationen erleben, wie der Entenfang genau vonstatten ging. In der „Eidum Vogelkoje“ erfahren die Besucher*innen Spannendes über heimische Sylter Wirbeltierarten. Das zwei Hektar große Areal ist neben Wissensquelle auch ein schwer romantischer Flecken Erde mit deutlichen Lieblingsplatz-Qualitäten.

Eidum Vogelkoje

Sylt/Rantum

CC-BY-SA | Wiebke Bleicken | Hegering Sylt

Naturpfad Vogelkoje Kampen

Kampen

© Roman Matejov / Sölring Museen, Roman Matejov
© Holm Löffler

Celebrity unter den Neubürger*innen

Die Pazifische Felsenauster

In Deutschlands einziger Austernzucht richtet sich alles nach den Gesetzen des Meeres - und den Bedürfnisse der Schalentiere: Jedes Exemplar braucht täglich an die 250 Liter frisches Nordseewasser, um zu gedeihen. „Solche Mengen kann nur das Meer selbst liefern. Darum wachsen die Miniaustern auch weitgehend in der Blidselbucht heran und nicht in der Betriebshalle“, erklärt Christoffer Bohlig, der „Chef“ - wie das Team den Betriebsleiter bei „Dittmeyer’s Austerncompagnie“ in List gerne nennt.

Die Pazifische Auster macht heute bei der kommerziellen Nutzung einen Weltmarktanteil von 94 Prozent aus. Der Neobiot aus der Pazifik findet auch in der Nordsee (nicht zuletzt wegen der steigenden Wassertemperaturen) nahezu ideale Ausbreitungs-Bedingungen. Angenommen wird, dass die wilden Bestände sich aus Larven aus dem Lister Zuchtbetrieb und einer Austernzucht in den Niederlanden entwickelt haben. Seit den 0er Jahren nimmt die Anzahl an wilden Pazifik-Austern rasant zu. Was das für andere Spezies bedeutet, wird u.a. auch vom Alfred-Wegner-Institut (AWI) intensiv untersucht. Dass sich die Verbreitung negativ auf die Miesmuschelbestände auswirkt, hatte man zunächst angenommen, inzwischen gibt es andere Untersuchungen, die belegen, dass die Miesmuschel an den wilden Austern andockt und Grundlage für Muschelwachstum bietet.

  • Bevor in der Austernzucht in Europa seit etwa 100 Jahren die Pazifische Felsenauster auf dem Vormarsch ist, gab es eine heimische Art: Die europäische Auster, die wegen Überfischung und verschiedener Erkrankungen seit der Mitte des letzten Jahrhunderts als ausgestorben galt. Das AWI kann inzwischen allerdings von Erfolgen verschiedener Neuansiedlungs-Versuche berichten.

© Holm Löffler

Die nach bretonischem Vorbild gebaute „Sofia“, ein Watt tauglicher Kahn mit einklappbaren Rädern, im Einsatz.

© Holm Löffler

Das Fischen der wilden Austern könnte bei Dittmeyer künftig ein Drittel der „Ernte" eines Jahres ausmachen. Seit 2015 ergänzen die „Wilden“ das gezüchtete Sortiment.

  • Das Sammeln von wilden Austern untersteht dem Fischereigesetz. Nur Inhaber eines Fischereischeins dürfen wilde Austern aus dem Wattenmeer entnehmen, pro Tag bis zu einem 10-Liter-Eimer. 

Neue Bestimmungen

für Zuchtaustern

Dittmeyer’s Austern-Compagnie wird seit den Anfängen 1986 Jahre medial viel beachtet. Bei aller Austernfischer-Romantik: Immer wieder gab es auch existentielle Momente. So wie jetzt die neuen Bestimmungen des Gesetzgebers für Kopfzerbrechen sorgen. Die „Sylter Royal“ wird halt in einem hoch protegierten Naturschutzgebiet gezüchtet - die Rahmenbedingungen sind entsprechend eng. Seit 2023 wird es dem Zuchtbetrieb untersagt, wie bisher einjährige Austern-Setzlinge aus Irland ins Watt zu verbringen. Befürchtet wird, dass die Austernkinder Krankheitserreger und weitere Neobiota einschleppen. Für die Austern-Compagnie ist diese gesetzliche Neuerung unternehmerisch bedrohlich. Letztes Jahr galt eine Übergangslösung. Der Betriebsleiter Christoffer Bohlig hofft auf weitere Gespräche, die für Januar 2024 angesetzt sind.

„Künftig dürfen wir eigentlich nur noch frisch geschlüpfte Austern verwenden. Das verlängert den Wachstumszyklus von jetzt 1-2 auf 4-5 Jahre und würde einen Bestand von 3,5 Millionen Tieren erfordern, um wirtschaften zu können. Das bekommen wir logistisch einfach nicht hin. Dafür haben wir nicht die Kapazitäten“, weiß Christoffer Bohlig. Wie es nun weitergeht? „Für uns denkbar wäre es, mit einem Drittel Wildaustern, einem Drittel der einjährigen und einem Drittel der kleinen Setzlinge zu kalkulieren“, meint Bohlig mit jener Unerschütterlichkeit, die Menschen haben, die so unmittelbar mit den Naturgewalten arbeiten. Irgendwie wird es wohl irgendeine Lösung geben. „Dat löppt sich allens wedder trecht“, heißt die plattdeutsche Weisheit zum Moment.

© Dittmeyer's Austern-Compagnie
© Dittmeyer's Austern-Compagnie
  • 700.000 bis 800.000 Austern verkauft Dittmeyer's Austern-Compagnie pro Jahr. 

  • 25 Prozent davon werden im eigenen Restaurant, die nächsten 25 Prozent bleiben in der Gastro auf der Insel. Die andere Hälfte geht vor allem an den Großhandel im deutschsprachigen Raum.

  • Für 1,32 € geht die Lister Auster derzeit an Gastronomen und Händler raus. In Restaurants wird der Gast dann etwa vier Euro pro Meerestier bezahlen.

„Für die Familie Dittmeyer ist das eine unternehmerische Liebhaberei. Große Gewinne machen lässt sich hier nicht. Aber aus dem Zusammenspiel aus Gastro und Vertrieb geht es auf“, weiß Christoffer Bohlig als Kenner der Bilanzen der letzten 20 Jahre. 

Austern richtig öffnen

Sylter Sternekoch Johannes King zeigt im Video, wie Sie Austern richtig aufmachen können, ohne das wertvolle Fleisch zu beschädigen.

© Christian Kerber

Christoffer Bohlig

Der Teilzeit-Lister

© Dittmeyer's Austern-Compagnie

Für den einen Lieblingsessen, für den anderen Höchststrafe. Die Auster steht für Luxus auf dem Speiseplan, maritime Romantik und ein krasses Stück Arbeit. Das Austernbusiness ist per se feucht, oft auch kalt und auch nichts für Weicheier. Außerdem muss man gerne tonnenweise schleppen können. Nur eine winzige Gruppe Mensch lebt auf der Insel so intensiv im Rhythmus der Gezeiten wie er und seine Team. Surflehrer*innen vielleicht noch. Die Biolog*innen vom Alfred Wegener Institut natürlich und die Leute von der Miesmuschelzucht in Hörnum. 

„Wer das zu lieben lernt, will es irgendwann nicht anders“, weiß der Kaufmann, Ingenieur und Austernfischer aus eigener Anschauung.

Sylt prägte ihn schon als Kind, als er mit seiner Familie die Ferien hier verbrachte. Er fing in Kiel an, Biologie zu studieren, wollte Meeresbiologe werden, wurde dann vom Unibetrieb und den mangelnden Perspektiven entzaubert, interessierte sich für die Fischerei, machte eine Ausbildung zum Kaufmann, fand schließlich bei der Austerncompagnie sein Biotop und setzte noch ein Ingenieurstudium für Verfahrenstechnik oben drauf. „Ob die Planung der Betriebsabläufe oder die Reparaturen in der Technik: Wir brauchen so gut wie keine externen Firmen“, erzählt der Allrounder und Teilzeit-Sylt.

Von montags bis donnerstags wohnt Christoffer unmittelbar dort, wo er arbeitet. Das sind seine vier Sylt-Tage, die wenig Ablenkung vom Austernbusiness erlauben. „Freitags mache ich Homeoffice. Da bin ich in Flensburg, dort lebt meine Familie. Ich bin froh über beide Teile meines  Lebens“, meint der Naturbursche zu seinem Lebens-Modell. Er ist ein Mann, der die Dinge gerne klar benennt und nicht vor lauter diplomatischer Vorsicht jeden Satz doppelt überprüft. 

Er könnte sich auch vorstellen, irgendwann in Skandinavien als Selbstversorger zu leben. Bis dahin kümmert er sich aber weiter um die Zukunft des Unternehmens und die Millionen Austernkinder im Betrieb.

  • Text: Imke Wein

Weiterlesen in der digitalen „Natürlich Sylt"